Aktienkurse zeigen Corona eine lange Nase

Es läuft an der Börse, obwohl es weiter viel Stillstand in der Wirtschaft gibt. Weiß der Dax wirklich mehr? Foto: dpa

Wie passt das zusammen: Hier eine zuversichtliche Börse, dort eine Wirtschaft in tiefer Depression? Die Antwort ist einfach. Aber wohl kaum von Dauer.

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FRANKFURT/DARMSTADT. Corona-Krise, weltweite Rezession, viele Virus-Tote auf der einen Seite – und Partystimmung an der Börse, wo sich die Erholungsrallye zum Erstaunen fortgesetzt hat, auch wenn es am Freitag Gewinnmitnahmen gab. Der deutsche Leitindex Dax legte zuletzt nach seinem Einbruch um 40 Prozent auf 8256 Punkte im März als Folge der globalen Schockstarre kontinuierlich zu. Bislang um rund 30 Prozent. Der Rekordstand war nahe 13 800 Punkten notiert worden. Dieses Niveau freilich dürfte, so die DZ Bank, wohl erst 2024 wieder erreicht werden.

Es läuft an der Börse, obwohl es weiter viel Stillstand in der Wirtschaft gibt. Weiß der Dax wirklich mehr? Foto: dpa

Für manchen mag allein der Kursanstieg der letzten Tage zynisch erscheinen. Dabei reagieren diese Zentren des Kapitalismus nur auf jede Entwicklung – positiv wie negativ. Und sie handeln die Zukunft. So gaben zuletzt die Lockerungen nach dem Shutdown Rückenwind, die Aussicht auf Impfstoffe sowie Medikamente gegen Corona, positive konjunkturelle Signale aus China. Die Musik aber machen letztlich die mit Geld von Regierungen und Notenbanken gefluteten Märkte – die eigentliche Triebfeder. Volkswirte haben weltweite Hilfspakete im Volumen von über acht Billionen Euro errechnet. Hier liegt Europa deutlich vor den USA. „Es gibt also für lange Zeit Liquidität im Überfluss“, sagt Olivier Berranger von der Fondsgesellschaft La Financière de l’Échiquier. Und daran glaubt der Markt, der zudem deutlich stärkere Kursschwankungen in den kommenden Monaten erwartet. Da dürften manche über Einstieg oder Aufstockung nachdenken – zusätzliche Nachfrage. Denn Anteile an soliden Unternehmen sind Sachanlagen. Und die sind in unsicheren Zeiten gesucht. Die Spanne der Prognosen ist zwar groß, deutliches Zeichen für die hohe Verunsicherung. Mit einem erneuten Absturz der Notierungen rechnet allerdings kaum ein Experte.

Die Schweizer Großbank UBS hält Unternehmen aus der Diagnostik und Gentherapie, letztlich generell aus dem Gesundheitswesen, für attraktiv. Aber auch solche, die den technischen Wandel vorantreiben und natürlich die Konsumgüterindustrie.

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Für den Darmstädter Finanzprofessor Dirk Schiereck ist das aktuell eine „politische Börse„ mit unvorstellbar großen Staatshilfeprogrammen, mit impliziten Konkursverboten für Großunternehmen (unabhängig davon, ob die langfristig überlebensfähig sind), und einer US-Wirtschaft in Wahlkampfmodus. Hinzu kommen Notenbanken, welche die Alternative Anleihe mit aller Macht in den negativen Bereich prügeln und ganz viel Liquidität bereitstellen, die irgendwo hinmuss.

Ein Aspekt ist für den Wissenschaftler dabei aber besonders wichtig: „Wir werden nach der Krise mit dem Wiederanspringen der Konjunktur vielfach Unternehmen sehen, die viel, viel besser organisiert sind als jetzt und richtig profitabel agieren werden. Das wird jetzt schon ein Stück weit eingepreist„. Manche Aktienkurse zeigen es. So wie viele Menschen sich daheim im Lockdown ans Aufräumen und Renovieren gemacht haben, so sehe man das gegenwärtig auch im Unternehmenssektor. Was lange Zeit vermieden, verschoben und nur in unscharfen Konturen angedacht war, wird gerade mit Vehemenz angeschoben: Einbau digitaler Strukturen, Arbeitszeitmodelle, wo statt gemeinsamer Kaffeepausen intensiv von daheim gearbeitet und viel Bürofläche überflüssig wird. Oder Durchforsten der Produktpalette, Abschaffen ineffektiver Dienstreisen, so Schiereck.

Verbraucher halten ihr Pulver trocken

Dass im Minenfeld von Angst und Gier gleichwohl oft der Wahnsinn regiert und sich mit reiner Vernunft auf dem Parkett kein Blumentopf gewinnen lässt, ist bekannt. Aber zumindest eine gewisse Schwarmintelligenz der Marktteilnehmer lässt sich nicht in Abrede stellen. „Sie werfen ja auch nicht das Fieberthermometer weg, wenn Sie Fieber haben“, sagte Deutsche-Börse-Chef Theodor Weimer jüngst. Auch wenn die Konjunkturaussichten düster sind, statt einer schnellen Erholung eher die Langsamkeit des Berappelns die Oberhand gewinnt, und erst die Berichterstattung aus dem zweiten Quartal die Wahrheit über den Zustand von Unternehmen gibt. Denn der Export lahmt wie etwa im Maschinenbau, Aufträge sind Mangelware, Gewinne schmelzen ebenso wie liquide Mittel dahin, Beispiel Lufthansa. Und Verbraucher halten ihr Pulver weitgehend trocken. Siehe Automarkt, siehe Textilhandel.

Ein Teil der Liquidität fließt ins Gold, vor allem aber wird damit Nachfrage nach Dividendenpapieren geschaffen. Das hat momentan meist nicht viel mit den Aussichten zu tun, selbst wenn diese etwa in Medizintechnik und Pharma gut sind. Denn die ökonomische Krise dürfte historische Ausmaße erlangen, wie IWF und andere vorhersagen. Und könnte lange dauern. Der Welthandel schrumpft, die Arbeitslosigkeit steigt.

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Natürlich: Aktien haben über einen längeren Anlagehorizont immer eine Rendite von etwa acht Prozent verdient. Doch mahnt derzeit die ausgeprägte Sorglosigkeit an den Börsen zur Vorsicht. Dennoch stehen Aktien auch deshalb im Fokus, „weil die Zinsen verschwunden bleiben“, so Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater. Die steigende Staatsverschuldung erzwingt dies. Zumal stark inflationäre Tendenzen von den meisten Auguren nicht erwartet werden.

Von Achim Preu