Donnerstag,
04.07.2019 - 00:00
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Jürgen Grabowski: Der Eintracht-Star, der niemals abhob

Von Stephan Neumann
Sportredakteur Wiesbaden

Wiesbadener Weltmeister: Jürgen Grabowski 1974 nach dem Finalsieg mit Helmut Schön. (Archivfoto: imago)
WIESBADEN - Er war der Senkrechtstarter mit eingebauter Bodenhaftung. Der Wiesbadener Jürgen Grabowski blickt auf einen märchenhaften Start seiner Karriere zurück, die einen unfassbar erfolgreichen Verlauf nehmen sollte. Vom SV Biebrich 19 über den FV Biebrich 02 in die Bundesliga zur Eintracht hin zum Weltmeistertitel im eigenen Land beim 2:1 am 7. Juli 1974 im legendären Finale gegen die Niederlande. Genau am Tag seines 30. Geburtstags. 45 Jahre sind seitdem vergangen – für „Grabi“, wie er bis heute respekt- und liebevoll genannt wird, ist das denkwürdige Ereignis in München aber so lebendig, als wäre es erst gestern geschehen.
Der größte Triumph: „1954 stand ich als Zehnjähriger vor einem Geschäft, um die Schwarz-Weiß-Übertragung vom deutschen WM-Titel in der Schweiz zu verfolgen. Und dann gewinnt man 20 Jahre später selbst die Weltmeisterschaft. Das ist unbeschreiblich und niemandem zu erklären. Ich dachte damals nach dem Schlusspfiff: Die Welt gehört dir“, erzählt Grabowski, der im Finale auf der rechten Außenbahn als Einfädler brillierte. In seinem Tonfall schwingt die Begeisterung noch leise mit. Ein „Lautsprecher“ war Gra-bowski ohnehin nie, gleichwohl eine Persönlichkeit mit stets klarer, durchaus auch mal unbequemer Haltung und als geborener Techniker ein über jeden Zweifel erhabener Ausnahmefußballer. Am Sonntag hat der Golf-Liebhaber doppelten Grund zum Feiern: 75. Geburtstag und 45. Jahrestag des WM-Triumphs.
Alles begann in einem kleinen Club
Wie alles anfing: Grabis Glück hat seinen Ursprung in einem kleinen Club, der kürzlich in seinem Beisein das 100-jährige Bestehen feierte. Beim heutigen Wiesbadener B-Ligisten SV Biebrich 19, für den auch sein Vater Anton gespielt hatte, schnürte er als Achtjähriger die Fußballschuhe. „Der Verein mit besonderem Stellenwert“, bekräftigt er. Und würdigt Kurt Klein, seinerzeit in den 1950ern Jugendleiter und Coach bei den 19ern, als ganz wichtigen Impulsgeber. „Er hat unglaubliche Begeisterung vermittelt“, erinnert sich Grabowski an die Zeit, als sein Team hessenweit für Furore sorgte. Als es aber beim Sprung in die A-Jugend an Spielern mangelte, wechselte er zum Nachbarn Biebrich 02.
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Auf dem Sprungbrett: Um dort seine Entwicklung zu forcieren. Mit Klaus-Dieter Herrmann, Rainer Köhler, Hansi Vogt und dem aus Oestrich gekommenen Torjäger Gerd Klier schaffte er direkt den Sprung aus der A-Jugend ins Hessenliga-Team von Trainer Heinz „Chef“ Przybilla, das gegen Darmstadt 98, den SV Wiesbaden und Germania Wiesbaden ein Fan-Magnet war. Fünf 18-Jährige in der Ersten – das war sensationell. Grabowski erinnert sich an Spiele vor 6000 bis 7000 Zuschauern. Und an folgende Hessenauswahlberufungen mit Länderpokalspielen unter Trainer Rudi Gellesch, die zum Sprungbrett wurden.
Der Wechsel zur Eintracht: Die Eintracht klopfte an. Es kam 1965 zum Gespräch bei Präsident Rudi Gramlich. „Das ging locker über die Bühne. Ich war stolz, von der Eintracht umworben zu sein. Dann hieß es: Du kriegst 1000 Mark im Monat, – und da gab es keinerlei Feilschen“, schildert Grabows-ki, der am 14. August 1965 vor 52 000 Zuschauern beim 2:0 über den HSV vom neuen Trainer Elek Schwartz, der sein großer Förderer wurde, in der Startelf gebracht wurde, Jürgen Kurbjuhn war sein Gegenspieler. Weitere 440 Startelfeinsätze im Oberhaus sollten hinzukommen. „Dabei wurde ich nie ausgewechselt“, streicht Grabi heraus – eine weitere höchst ungewöhnliche Facette seiner bewegten Laufbahn.
Ruckzuck Nationalspieler: Der Wahl-Wiesbadener Helmut Schön, von 1964 bis 1978 Bundestrainer, erkannte schnell die Fähigkeiten des schmalen Filigrantechnikers, der als echter Straßenfußballer früh den Umgang mit dem Ball unentwegt geübt hatte. Am 4. Mai 1966 gab Grabowski gegen Irland sein Debüt in der Nationalelf, wurde auch für die WM in England nominiert, kam aber nicht zum Einsatz. Was auch daran lag, dass damals keine Einwechselspieler erlaubt waren. „Da gab es aber keinen Frust. Ich war glücklich, dabei gewesen zu sein“, sagt Grabowski, der den Ball beim berühmten Wembley-Tor, das Deutschland zum Vizeweltmeister stempelte, aus heutiger Sicht als „nicht hinter der Linie“ bewertet. 1970 in Mexiko, als Ersatzspieler gebracht werden durften, avancierte er zum besten Einwechselspieler der Welt, durfte am 17. Juni im Jahrhundertspiel gegen Italien (3:4) gar vom Start weg spielen, um in der Nachspielzeit das von Karl-Heinz Schnellinger erzielte 1:1 aufzulegen. Die Verlängerung wurde zum Drama – Deutschland verlor denkbar unglücklich. Der grandiose Titelgewinn bei der EM in Belgien 1972, zu dem der Wiesbadener beitrug, ließ die Enttäuschung von 1970 vergessen.
Das Angebot der Bayern: Zwei Jahre vor Mexiko war Grabowski ein einziges Mal ins Grübeln geraten. „Die Bayern kamen 1968 über Robert Schwan mit einem konkreten Angebot. Das stand damals auf des Messers Schneide. Doch Rudi Gramlich hat keine Freigabe erteilt. Im Nachhinein war ich froh, dass er Nein gesagt hat“, blickt Grabowski zurück, ohne sich zu grämen. 15 Jahre blieb er der Eintracht treu, trug von 1969 bis 1980 die Spielführerbinde. „15 Jahre – da musste man charakterstark sein. Es war gar nicht so einfach, wenn man sich immer neu beweisen muss“, bekennt er.
Doch Grabi besaß auch diese Gabe. „Er war und ist immer authentisch geblieben, hat sich niemals verbiegen lassen und ist zurecht eine Eintracht-Legende aus Wiesbaden“, adelt Wiesbadens Fußballwart Dieter Elsenbast den absoluten Ausnahmespieler.