Gastkommentar von Michel Friedman: Es ist Zeit aufzuwachen

Michel Friedman. © Nicci Kuhn
© Nicci Kuhn

Immer mehr EU-Mitgliedsstaaten werden undemokratischer. Das bringt die freiheitliche Staatsform immer mehr ins Wanken, schreibt Michel Friedmann.

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. Wir erleben, dass das 21. Jahrhundert zu einem Kriegsschauplatz im wahrsten Sinne des Wortes wird. China und Russland sind nicht nur ökonomisch, militärisch oder geostrategisch aggressiv und setzen ihre Politik mit Mitteln der Gewalt durch. Ihr Hauptziel sind die demokratischen Staaten. In mehreren öffentlichen Erklärungen haben sie das klar und deutlich formuliert. Insbesondere nehmen sie die Vereinigten Staaten von Amerika und die Demokratien in Europa sowie die Europäische Union ins Visier.

Die Demokratie ist aber nicht nur von außen bedroht, sondern auch von innen. Immer mehr Mitgliedsländer der Europäischen Union wählen Regierungen, die zwar demokratisch gewählt wurden, aber undemokratisch sind. Nicht nur Viktor Orban in Ungarn, der vom Europäischen Gerichtshof verurteilt wurde, baut den Rechtsstaat ab, bedroht die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit und schränkt die Pressefreiheit ein. Auch in Polen wird eine der wichtigsten Säulen des Rechtsstaates zerstört. Und in Schweden erleben wir, dass eine neue Regierung vor den Türen der Macht steht, die das Diskriminierungsverbot nicht mehr ernst nimmt.

Italien wählt eine Neo-Faschistin

Die neueste Erschütterung kommt aus Italien, einem der vier Gründungsländer der Europäischen Union. Hier gibt es keinen Etikettenschwindel. Die Wölfin hat von Anfang an den Schafspelz ausgezogen. Eine bekennende Neo-Faschistin und Mussolini-Anhängerin wird wahrscheinlich die erste Frau im Amt des italienischen Ministerpräsidenten. Sie wettert gegen Deutschland, gegen die EU, die Italien mit 200 Milliarden Euro pro Jahr das Überleben garantiert. Wie bei allen rechtspopulistischen Parteien bekennt sie sich zur Familie. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber Familie bedeutet für sie Mann, Frau und Kinder. Gleichgeschlechtliche Liebe lehnt sie genauso ab, wie Ungarn und Polen es tun.

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Das Zerbröseln des demokratischen Standards in der Europäischen Union ist also längst kein Einzelfall mehr. Und dann ist da noch Frankreich, wo die extremen Parteien im Parlament besonders stark sind und Marine Le Pen die extreme Rechte anführt. Bei der nächsten Präsidentenwahl in Frankreich, bei der Emmanuel Macron nicht mehr kandidieren darf, könnte das Ende der EU eingeleitet werden: wenn die Rechtsnationalisten wie Le Pen gewinnen.

Durch den Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, sind außerdem alle Bürger der Demokratien mit der antidemokratischen Entwicklung konfrontiert. Wegen der hohen Inflation und der hohen zusätzlichen Kosten für Energie und Strom leiden sie empfindlich in ihrem Alltag.

Seit 2015, als zunächst Millionen Menschen aus Syrien flüchteten, dann die Corona-Krise kam und schließlich der Krieg mitten in Europa ausbrach, haben sehr viele Menschen langjährigen Stress hinter sich. Auch in Deutschland führt das dazu, dass Hasser, Hetzer und Demokratieverächter immer noch, jedenfalls auf Bundesebene, in den Umfragen bei etwa 13 Prozent der Stimmen liegen. Sie werden in den nächsten Wochen ihr Gift versprühen, Menschen verführen, zerstörerisch in die gesellschaftlichen Diskussionen eingreifen, schamlos lügen und damit auch in Deutschland die Demokratie gefährden.

Demokratie muss öffentlich verteidigt werden

Die Demokratie ist aber auch bedroht, weil ihre Befürworter entweder gelangweilt, genervt oder leidenschaftslos sind – und die Demokratie nicht öffentlich verteidigen. Gerade in einer Zeit, in der wir sehen, wie die Macht von Diktatoren nach innen wie nach außen wächst, indem sie verächtlich auf ihre eigenen Bürger schauen, den Wert des Einzelnen leugnen oder Menschen gleich als Kanonenfutter benutzen, sollten Demokraten und Demokratinnen jedoch mit glänzenden Augen ihre Ideen vertreten.

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In Diktaturen ist niemand jemand. In Demokratien ist jeder jemand. Wann, wenn nicht jetzt, sollten Demokratien selbstbewusst, engagiert und werbend für die Idee sein? Es ist Zeit aufzuwachen.

Von Michel Friedman