Wochenbettdepression: Wenn Mütter nichts für ihr Baby empfinden

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Fünf Jahre ist es her, dass Svenja Müller (Name geändert) ernsthaft mit dem Gedanken spielte, sich von einem Hochhaus zu stürzen. „Einzig der Blick auf mein Kind hielt...

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. Fünf Jahre ist es her, dass Svenja Müller (Name geändert) ernsthaft mit dem Gedanken spielte, sich von einem Hochhaus zu stürzen. „Einzig der Blick auf mein Kind hielt mich davon ab, meinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Ich wollte nicht, dass es allein aufwächst.“ Ansonsten habe sie keine innige Beziehung zu ihrem Sohn verspürt. Ihre Hebamme habe dagegen schon viel früher gemerkt, dass Müller an Wochenbettdepression erkrankt sei. Sie hinterließ der jungen Mutter Infomaterial – darunter die Telefonnummer der Psychotherapeutin Silvia Oddo-Sommerfeld.

Oddo-Sommerfeld arbeitet seit 2006 an der Uniklinik in Frankfurt und übernahm dort 2012 die Leitung der Psychologie in der Geburtsmedizin. Eine Wochenbettdepression bekommen etwa 13 Prozent der Mütter, wobei die Dunkelziffer höher liegt, berichtet die Psychotherapeutin. Seit September 2013 hat sie zusätzlich zu ihrer Arbeit in der Uniklinik eine eigene Praxis in Wiesbaden, in der sie Mütter mit Wochenbettdepression betreut. Es sei wichtig, dass bekannt werde, dass die Krankheit kein Randphänomen sei.

Perfektionismus, Selbstzweifel und gemischte Gefühle

Die Mütter hätten Selbstzweifel bezogen auf das Mutterdasein und ambivalente Gefühle dem Kind gegenüber. „In einen Moment freuen sie sich über das Kind, im nächsten sind sie aggressiv und haben negative Gefühle dem Kind gegenüber“, sagt Oddo-Sommerfeld. So würden mache ihr Kind dafür verantwortlich machen, dass das gewohnte Leben vorbei sei. „Im schlimmsten Fall möchte die Mutter dem Kind etwas antun.“ Trotz der vielen Aufklärungsarbeit schämten sich viele Mütter zu sehr, um sich Hilfe zu holen.

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Dabei sei an einer Depression keinesfalls die Mutter schuld. Eine Wochenbettdepression entstehe durch verschiedene Faktoren: Die hormonellen Prozesse im Körper wirken sich Oddo-Sommerfeld zufolge auf die Psyche aus. Dazu könne noch eine genetische Komponente kommen, wenn die Frau zu Depressionen neige oder generell psychische Erkrankungen in der Familie vorlägen. „Wenn man in der Schwangerschaft schon Angst oder Depressionen hat, dann ist das Risiko einer Wochenbettdepression hoch.“ Hinzu kämen noch charakterliche Eigenschaften: Wer zum Perfektionismus neige, könne unter Kontrollverlust leiden, wenn das Kind das gewohnte Leben durcheinander bringt. Auch Frauen, die keine soziale Unterstützung von Freunden und der Familie erleben, seien gefährdet.

Müller bemerkte während ihrer Schwangerschaft nichts, sie habe allerdings schon früher depressive Phasen gehabt. „Meine Eltern waren sehr Ich-bezogen und nicht für mich da“, erzählt sie. Sie habe sich nicht vorstellen können, je eine Beziehung zu ihrem Kind zu entwickeln, da ihre Eltern ja ebenfalls nie eine Beziehung zu ihr aufgebaut hätten. Ausgerechnet ihre Mutter habe ihr schwere Vorwürfe gemacht, als die merkte, dass sie sich nicht auf ihr Kind einlassen konnte. „In den Studien ist die betroffene Frau im Durchschnitt über 30 Jahre alt“, sagt Oddo-Sommerfeld. „Frauen werden immer später Mutter und haben dann schon die komplette Kontrolle über ihr Leben und den Beruf.“ Sei das Kind dann da, ergebe sich ein Identitätsproblem und die Frage, ob die eigene Existenz auf das Muttersein reduziert werde. „Je mehr Belastung und Stress dazukommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Depression.“

Ein Patentrezept, mit dem man sich schützen könne, gebe es nicht. Ein gutes Verhältnis zu Freunden und Familie sei hilfreich. Sie empfiehlt auch, Kontakt zu anderen Müttern zu suchen. Die Geburt sei ein einschneidendes Erlebnis, das die Psyche angreifbar mache. Man solle sich realistisch mit dem Muttersein beschäftigen. Schließlich ist das Leben mit einem Neugeborenen gerade für junge Mütter anstrengend. Hinzu kommt die Hormonumstellung. Höhen und Tiefen sind normal. Das gilt auch für den einen oder anderen „Heultag“ – den sogenannten Babyblues, der oft in den ersten Tagen nach der Geburt die Mütter überfällt. Doch wenn auch nach Wochen noch Symptome wie Niedergeschlagenheit und eine fehlende emotionale Bindung an das Kind auftreten, ist professionelle Hilfe gefordert. Begibt sich die Mutter dann in Therapie, stehen die Heilungschancen gut. Andernfalls ist die Gefahr groß, dass sich die Depression verfestigt. Mögliche Folgen sind dann ein dauerhaft gestörtes Mutter-Kind-Verhältnis oder gar Selbstmordversuche.

Antidepressiva, die nicht in die Muttermilch übergehen

Soweit wollte Sonja Müller es nicht kommen lassen. Nach ihren Suizidgedanken begab sich in Behandlung. Spät, aber nicht zu spät: Schon nach den ersten Sitzungen merkte sie, dass sich ihre Stimmung kurzfristig aufhellte. „Es hat dann ein gutes halbes Jahr gedauert, ehe ich meine Lebensfreude wiederfand“, sagt sie. Wer sich nicht behandeln lässt, schadet Oddo-Sommerfeld zufolge auch dem Kind: „Das Kind ist anfälliger für psychische Erkrankungen. Außerdem sorgt das gestörte Verhältnis zur Mutter dafür, dass es sich kognitiv und psychisch schlechter entwickelt.“ Dazu könnten Entwicklungsstörungen wie Einnässen oder Ängstlichkeit kommen.

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Der gesellschaftliche Druck auf Mütter ist enorm, erzählt Oddo-Sommerfeld. Das fange schon beim Stillen an. Wenn das dann nicht auf Anhieb klappe, entstünden Versagensgefühle. „Medikamente können bei Wochenbettdepression durchaus sinnvoll sein. Es gibt stillkompatible Antidepressiva.“ Es sei allerdings ratsam, die Medikamente mit einer Gesprächstherapie zu kombinieren.

Müller schaffte die Therapie ohne Medikamente. Aber auf die verlorene Anfangszeit blickt sie wehmütig zurück. „Ich habe das Gefühl, ich hätte etwas verpasst.“ Heute habe sie ein großartiges Verhältnis zu ihrem Sohn. „Er ist jetzt fünf Jahre alt und in der Trotzphase, aber er macht mich unglaublich glücklich.“

Von Sonja Ingerl