„Viele spüren es lange nicht“: Darmstädter Diabetologe im Interview
Im Interview klärt der Darmstädter Diabetologe Dr. Rafael Lisowski über Mythen des deutschen Volksleidens Nummer eins auf: Diabetes. Betroffene müssen einige Regeln beachten.
Von Sirka Schmidt
Online-Redakteurin
Dr. Rafael Lisowski, Diabetologe in einer Darmstädter Gemeinschaftspraxis.
(Foto: Sirka Schmidt)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
DARMSTADT - Diabetes mellitus ist eine der großen Volkskrankheiten in Deutschland: Laut Gesundheitsbericht der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) un der Deutschen Diabetes Hilfe sind derzeit mehr als sechs Millionen Menschen betroffen. Im Interview klärt der Darmstädter Diabetologe Dr. Rafael Lisowski über Mythen des Volksleidens auf.
Herr Lisowski, warum ist es ein Vorurteil, dass nur alte und übergewichtige Menschen an Diabetes erkranken?
Dr. Rafael Lisowski: Es gibt verschiedene Typen von Diabetes, Typ 1 oder Typ 2 sind sehr bekannt. Es gibt aber auch noch Schwangerschaftsdiabetes und Typ 3-Diabetes. Zum Letzteren gehören etwa 50 verschiedene Erkrankungen die zu Diabetes führen und da ist jede Altersklasse von betroffen. Insgesamt kann vom Diabetes auch jede Gewichtsklasse betroffen sein. Viele Menschen kennen nur den häufigeren Typ 2-Diabetes. Und den hatten früher die meist übergewichtigen Großeltern. Deswegen hat sich dafür der Begriff „Altersdiabetes“ eingebürgert. Aber das stimmt heute nicht mehr: Meine jüngste „Altersdiabetikerin“ war gerade einmal 17 Jahre alt.
Was passiert mit dem Körper, wenn man an Diabetes erkrankt?
Viele spüren es lange nicht. Gerade beim Typ-II-Diabetes hat man am Anfang oft keine Symptome. Erst wenn über einen längeren Zeitraum hohe Blutzuckerwerte bestehen, können Symptome auftreten. Dazu gehört oft Müdigkeit, viele Patienten haben ständig Durst, müssen häufig zur Toilette, haben öfters Infekte, nehmen eventuell ungewollt Gewicht ab und irgendwann macht der Hausarzt eine Laboruntersuchung und die Patienten wundern sich, warum der Diabetes „plötzlich“ ausgebrochen ist. Dabei besteht die Krankheit schon zum Teil seit Monaten oder Jahren. Beim Typ 1-Diabetes ist der Verlauf erheblich rascher, dadurch treten die Symptome schneller auf.
Würden Sie sagen, es ist heute einfacher, mit der Krankheit klar zu kommen?
Aus medizinischer Sicht hat man heutzutage mehr Therapiemöglichkeiten. Es sind viele neue Medikamente auf den Markt gekommen, z.B. neue Tablettentherapien oder neue Insuline. Das macht die Therapie einfacher. Früher war die Insulininjektion sehr aufwändig. So mussten z.B. die Spritzen ausgekocht werden, die Nadeln waren sehr lang, und Blutzuckermessgeräte für zu Hause gab es nicht. Durch stark vereinfachtes Injektionsbesteck und Blutzuckermessgeräte zur Selbstkontrolle ist die Einstellung des Diabetes viel einfacher geworden.
Ist Diabetes auch Kopfsache?
Das Leben mit der Erkrankung wird durch die moderne Medizin zwar einfacher, aber das Leben selbst ist schnelllebiger geworden und man wird mit mehr Aufgaben konfrontiert. Je nachdem, welchen Stellenwert der Diabetes in dem Moment hat, wird der Verlauf besser oder schlechter sein.
Also spielen in die Behandlung auch viele psychosoziale Faktoren rein?
Ja klar. Manch ein Patient hat mir schon gesagt: Der Diabetes mit den Blutzuckerwerten ist für mich das Spiegelbild meiner Seele‘.
Wie kann man sich mit dem Diabetes „arrangieren“?
Irgendwie muss man den Diabetes in den Alltag integrieren. Arrangieren klingt so, als würde das so nebenbei laufen. Man muss die Krankheit für sich akzeptieren und sich bewusst werden: da ist der Diabetes und darum muss ich mich kümmern. Gerade bei den Typ-1-Diabetikern hat der Diabetes oft den Menschen im Griff und nicht umgekehrt. Die Patienten richten ihr ganzes Leben darauf aus: Essen, Sport, etc. Aber das muss ja andersherum passen. Heutzutage ist das zum Glück möglich – mit Diabetes ist alles möglich.