Freitag,
08.11.2019 - 08:00
6 min
Interview: wir sind Gedächtnis

Von Heiko Weissinger
Sportredakteur

Der Mauerfall, Deutschlands friedliche Revolution im Jahr 1989. (Foto:dpa)
Dreißig Jahre sind seit dem Mauerfall am 9. November 1989 vergangen. Doch die Bilder dieses Abends nach der überraschenden Öffnung der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland haben viele noch im Kopf: Menschen liegen sich in den Armen, jubeln und weinen. Und sie erklimmen schließlich zu Hunderten die Mauer, die 28 Jahre lang Ost- und Westberlin trennte.
Die Erinnerungen an emotional aufwühlende Ereignisse wie den Mauerfall oder den Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 „brennen sich förmlich in das Gedächtnis ein“, sagt der Biologe und Hirnforscher Martin Korte. Im Interview erklärt der 55-jährige Leiter der Abteilung Zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig, warum Gefühle für das Erinnern wichtig sind, wie Gedächtnispillen Traumata-Patienten helfen können und weshalb er rät, Hochzeiten groß zu feiern und Geld statt für neue Autos lieber für Urlaubsreisen auszugeben.
Herr Korte, ich habe einen Kollegen gefragt, welche Wochentage der 9.11.1989 und der 11.9.2001 waren. Er wusste, dass der Mauerfall an einem Donnerstag war und die Attentate auf das World Trade Center an einem Dienstag, aber nicht, auf welche Tage sein 18. und 30. Geburtstag fielen. Woran liegt das?
Wir erinnern uns dann an Ereignisse am besten, wenn sie einen stark emotional aufwühlenden Charakter haben. Gefühle setzen einen besonderen Marker und sprechen viele verschiedene Areale im Gehirn an. Über die Gefühle werden Botenstoffe aktiviert, die dafür sorgen, dass Ereignisse im Langzeitgedächtnis landen. Es gibt zum Beispiel Untersuchungen, dass Ehen, die groß gefeiert werden, also mit hohem emotionalen Gehalt, tatsächlich länger halten als solche, die klein gefeiert werden.
Gibt es einen Unterschied zwischen positiven und negativen Ereignissen?
Sind sie stark emotional aufwühlend, dann ist es das gleiche Muster. Das kann man evolutionsbedingt so erklären: Man soll sich sowohl an die Wasserstelle erinnern, an der man beinahe von einem Löwen gefressen wurde, als auch an die Wasserstelle, an der man eine Antilope fangen konnte. Bei nicht so aufwühlenden Ereignissen tendieren wir aber im Laufe des Lebens dazu, stärker die positiven Ereignisse zu erinnern als die negativen. Ich empfehle den Leuten daher immer, lieber in den Urlaub zu fahren als sich ein neues Auto zu kaufen, weil der Urlaub mit Abstand immer schöner wird und das Auto mit Abstand nur schlechter werden kann.
Erinnerungen an Ereignisse wie den Mauerfall sind oft detailreich. Warum?
Die Erinnerungen brennen sich förmlich in das Gedächtnis ein. Und ein einzelner assoziativer Reiz kann dazu führen, dass eine ganze Kaskade an Erinnerungen wachgerufen wird. Wir sprechen da von sogenannten Blitzlichterinnerungen. Eines der klassischen Beispiele der Literatur ist Marcel Proust, der in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ einen Tee mit einem Madeleine-Gebäck gereicht bekommt, das genau dem Geruch und dem Geschmack der Madeleines entspricht, die er in seiner Kindheit geliebt hat. Das ruft Blitzlichterinnerungen hervor, die er jahrelang nicht mehr hatte. Dabei wird das neuronale Netz, das die Erinnerungen abspeichert, durch einen einzelnen Trigger in seiner Gesamtheit aktiviert. Man muss nur aufpassen: Diese Blitzlichterinnerungen kommen einem unglaublich echt vor, weil sie so detailreich sind. Sie können aber genauso unzuverlässig oder falsch sein wie weniger detailreiche Erinnerungen.
Wie erinnern wir normalerweise?
Normalerweise aktivieren wir nur Teilaspekte einer Erinnerung. Das macht auch Sinn, denn sonst wäre man ja im Grunde handlungsunfähig, wenn einem zu jedem Geruch, zu jedem Personennamen ganze Geschichten einfallen würden.
Wenn mich ein Ereignis wie der Mauerfall kalt gelassen hat, kommt es dann auch zu Blitzlichterinnerungen?
Nein, dafür bedarf es der emotionalen Berührtheit, weil erst die Gefühle einen genügend starken Anker an die zu verarbeitende Information setzen, um sie im Langzeitgedächtnis fest abzuspeichern. Sie werden dann quasi in Beton gegossen oder schreibgeschützt. Und durch die Emotionen wird nicht nur das Abspeichern besonders effektiv, sondern auch das Abrufen.
Und das wird dann im schlechtesten Fall, bei den Traumata, zum großen Problem...
Ganz genau, weil man nicht vergessen kann. Hat man einen schlimmen Unfall, bei dem ein blaues Auto involviert war, und sieht man später im normalen Verkehr ein solches blaues Auto, können blitzlichtartig alle Erinnerungen wieder abgerufen werden. Das kann das Leben von Menschen mit posttraumatischen Störungen massiv beeinträchtigen, weil sie Schockreaktionen zeigen oder hyperventilieren.
Bei besonders bedrohlichen Situationen kann es aber auch sein, dass so viele Stresshormone ausgeschüttet werden, dass wir uns an ein Ereignis oder Teile eines Ereignisses gar nicht mehr erinnern.
Wie wichtig sind Hinweisreize?
Für die meisten Erinnerungen brauchen wir sie, deshalb sind zum Beispiel Tagebücher oder Fotoalben wertvolle Hilfsmittel. Ich habe kürzlich nach 30 Jahren wieder eine alte CD von Reinhard Mey eingelegt. Da kamen viele Erinnerungen an meinen Zivildienst oder den Beginn des Studiums hoch, die ich ganz lange nicht mehr hatte. Einerseits ist das schön, aber andererseits auch beunruhigend, dass wir nicht kontrollieren können, was wir wann und wie erinnern.
Helfen Hinweisreize auch Demenz- und Alzheimerkranken?
Ja, das können Möbel- und Kleidungsstücke sein, vor allem die Musik hat hier aber eine herausragende Bedeutung. Mit der kann man in der Altenpflege Menschen noch erreichen und Gedächtnisinseln wecken, auf die man sonst keinen Zugriff hätte. Sogar Angehörige können dann wieder erkannt werden.
Warum ist das so?
Die Areale, die in unserem Gehirn Musik verarbeiten, widerstehen besonders lange der Alzheimer-Erkrankung. Das könnte auch eine Intensivierung der musikalischen Frühförderung und Ausbildung bedeuten. Vielleicht müssen wir hier mehr investieren, um Menschen langfristig besser vor Erkrankungen des Gehirns zu schützen.
„Jedes Mal, wenn wir erinnern, verändern wir unsere Erinnerung“, sagen Sie. Was heißt das? Und was bedeutet es für das Ereignis Mauerfall?
Der emotionale Gehalt einer Erinnerung kann sich grundsätzlich in beide Richtungen ändern. Beim Mauerfall war die Reaktion im Westen zunächst deutlich differenzierter hinsichtlich eines gemeinsamen Deutschlands; die Alliierten waren sehr zögerlich. Und in der Rückschau feiern jetzt alle das große tolle Ereignis – was es ja auch ist. Generell gilt: Die Vergangenheit ist niemals vergangen. Solange sie erinnert wird, kann sie auch verändert werden.
Was heißt das denn für Traumata-Patienten?
Das bietet die Möglichkeit, Traumata zu therapieren. Indem man die Erinnerungen wieder wachruft, so schmerzhaft das für die Patienten zunächst ist, aber in einer sicheren Umgebung. Durch diese Sicherheit wird die aufgerufene Erinnerung dann von Mal zu Mal immer weniger stark emotional abgespeichert. Ein anderer Trick ist, dass man den Patienten ablenkt, indem er beispielsweise ein Pendel verfolgen muss, während er von seiner traumatischen Erinnerung berichtet. Dadurch wird diese ebenfalls emotional weniger stark erneut abgespeichert, da die Aufmerksamkeit durch das Pendel niedriger ist.
Halten Sie eine Gedächtnispille für möglich, die traumatische Ereignisse vergessen lässt oder abschwächt?
Vergessen lässt – nein. Abschwächt – ja. Es gibt erste Ansätze mit pharmakologischen Substanzen, die vielversprechend sind, beispielsweise mit Mitteln, die normalerweise zur Blutdrucksenkung eingesetzt werden und die einen Ereignisse entspannter sehen lassen. Die müssen kurz nach einem traumatischen Ereignis eingenommen werden. Gedächtnisse wirklich zu löschen, ohne massive Nebenwirkungen, halte ich für schwierig. Da läuft man Gefahr, große Teile seines Gedächtnisses zu verlieren. Das Risiko würde niemand eingehen.
Das Buch zum Thema: Martin Korte: Wir sind Gedächtnis. Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind. DVA, 384 Seiten, 20 Euro