Die Vermessung der weiblichen Welt: Wiesbadener...

Individuelle Beratung: Claudia Specht in ihrem Wiesbadener Atelier „Tüll und Spitze“. Foto: Torsten Boor
© EXT

Claudia Specht zurrt hier, fixiert dort, justiert nach - sie ist Maßschneiderin und hat sich auf Dessous spezialisiert. Bis so ein schönes Stück den Formen einer Kundin...

Anzeige

. Vorsicht, jetzt ist Fingerspitzengefühl gefragt, im übertragenen Sinn und wortwörtlich. Wie's geht, zeigt Claudia Specht: Behutsam drapiert sie Gummibänder über die entblößte Schulter ihres Gegenübers, befestigt sie an elastischen Streifen, die sie zuvor um den Oberkörper geschlungen hat - eines ungefähr auf Achselhöhe, das andere ein Stück tiefer. Weitere Bänder folgen, Claudia Specht zurrt hier, fixiert dort, justiert nach - immer wieder wandern ihre Fingerkuppen prüfend die blauen Bahnen entlang.

Was klingt wie eine erotische Fesselungsvariante, ist nichts anderes als handwerkliche Präzisionsarbeit: die millimetergenaue Vermessung der weiblichen Welt. Denn Claudia Specht ist Maßschneiderin - und zwar für Dessous. Also für alles, was Frau unter der Kleidung trägt. Oder stattdessen, wie einen Badeanzug. "Damit so ein Einteiler perfekt sitzt, muss ich bei einer Kundin über 100 detaillierte Maße nehmen", überschlägt die Fachfrau für delikate Aufgaben. "Delikat" übrigens deshalb, weil es nicht allen leichtfällt, sich von einer Unbekannten in diesen Körperregionen vermessen zu lassen. Eine Scheu, die unbegründet ist. "Niemand muss sich komplett ausziehen, die Kundin behält ihre Wäsche an", betont Claudia Specht. Gerade im Umgang mit brustoperierten Frauen etwa braucht es Fingerspitzengefühl. Viele von ihnen tun sich schwer damit, ihre Narben in einem nicht-medizinischen Umfeld zu zeigen. Doch im Wiesbadener Atelier "Tüll und Spitze" verfliegt jegliche Befangenheit im Nu.

An Model Diana demonstriert Claudia Specht, wie sie mithilfe der Bänder quasi einen Rahmen absteckt, anhand dessen sie die Richtwerte für einen Büstenhalter ermittelt. Horizontale und vertikale Körbchenlänge, Achselmaß, Dekolletee-Länge, Mittelteil - das sind nur einige der Maße, die Claudia Specht benötigt. Aus über 30 Teilen besteht so ein BH, je nach Modell. Alle müssen einzeln von Hand zugeschnitten und zusammengenäht werden. Das kostet Zeit - und damit auch Geld. Zumindest mehr als der BH von der Stange für 29,95 Euro. Dessous-Maßschneiderei - ein Luxus allein für Gutbetuchte?

Einzige Ausbildungsstätte in Ginsheim am Main

Anzeige

Nein, findet Claudia Specht. Nur beim Erstauftrag fallen Kosten für Beratung, Maßnehmen und Schnittkonstruktion an, "aus dem Basis-Schnitt kann ich alle weiteren Modelle ausarbeiten". Doch sind selbst die Folgeaufträge teurer als der Industrie-BH: 140 Euro aufwärts plus Materialkosten beträgt der Preis für einen Specht-BH. Warum also zur Maßschneiderin gehen? "Weil die wenigsten Frauen das Glück haben, exakt in die Modelle reinzupassen, die anhand der Maßtabellen der Industrie hergestellt werden, und die immer nur einen Mittelwert für jede Konfektionsgröße bieten können." Das ist sehr zurückhaltend formuliert angesichts der Dramen, die sich täglich in Umkleidekabinen abspielen.

Thomas Grün zeigt da verbal weniger Fingerspitzengefühl. "Zu viel, zu wenig, zu groß" fasst er, mit Blick auf weibliche Formen, die Gründe zusammen, weshalb sich Frauen Dessous auf den Leib schneidern lassen. Oder dies gleich selbst tun. Wie das geht, lernen sie in der Ginsheimer "Dessous-Akademie", der bundes-, vermutlich sogar europaweit einzigen Ausbildungsstätte für Dessous-Maßschneiderei. Thomas Grün ist der Kaufmännische Direktor, seine Frau Madeleine van der Werve leitet die Ausbildung. Wer hierher kommt, muss weit mehr als nur Fingerfertigkeit unter Beweis stellen. Um in Lehrgängen wie "Schnittkonstruktion" oder "Prothetik" zu bestehen, müssen die Schülerinnen das große Einmaleins der Schneiderkunst aus dem Effeff beherrschen. "Dessous-Nähen ist die Königsdisziplin für alle, die schneidern", daran lässt Grün keinen Zweifel. Wer sich beim Herstellen eines BHs bei fünf Arbeitsschritten jeweils um einen Millimeter vertue, habe am Ende ein Problem. "Fünf Millimeter mehr beim T-Shirt merken Sie überhaupt nicht. Beim BH bedeuten fünf Millimeter eine Cup-Größe mehr." Rund 270 Frauen pro Jahr nehmen an den Lehrgängen in Ginsheim teil. Darunter Ärztinnen oder Architektinnen, die sich das Dessous-Schneidern als anspruchsvolles Hobby auserkoren haben - "da wird zum Powerweekend-Kurs die eigene 6000-Euro-Nähmaschine ausgepackt", kolportiert Grün in ehrfurchtsvollem Ton.

Nach Ginsheim zieht es auch Profis: Textildesignerinnen, Bekleidungsingenieurinnen oder Modedesignerinnen wie Claudia Specht. Alle, die nach einer fundierten Anleitung zum Nähen von Shapewear, Slips und Co suchen, kommen irgendwann in die Akademie. Denn Dessous-Maßschneiderei ist kein Lehrberuf. Ausgerechnet in Deutschland, wo jeder Berufszugang geregelt ist, fehlt es an einer staatlich anerkannten Ausbildung für die Verarbeitung elastischer Materialien. Dabei dürfte nichts komplizierter zu nähen sein als perfekt sitzende Wäsche. Nicht nur ein scharfer Blick und eine ruhige Hand sind gefragt, sondern vor allem ein kluger Kopf. Claudia Specht holt aus einer der vielen Schubladen in ihrem Atelier ein dunkelglänzendes Gewebe hervor. "Wenn ich einen Stoff verwende, der dicht gewebt ist und wenig Elasthan enthält, weiß ich, dass er korrigierend wirkt. Dieser dagegen", sie greift zu einer champagnerfarbenen Mikrofaser, "dehnt sich nur in eine Richtung, auch das muss bei der Verarbeitung mitbedacht werden".

Eine Schublade nach der anderen zieht sie auf: Biozertifizierte Baumwolle, Seide - Wärmendes für den Winter, Fluffig-Leichtes für den Sommer. Alles Materialien, die der Haut schmeicheln. Dazu feinste Spitze wie die weltberühmten "Dentelles" aus Calais. "Eben keine asiatische Spitze", Claudia Specht rümpft die Nase, "die auf der Haut kratzt".

Platzverbot für asiatische Billigspitze

Anzeige

Einen Teil ihrer Textilien bezieht sie aus dem "Spitzenparadies", das der Dessous-Akademie angegliedert ist. Asiatische Billigware findet sich auch hier nicht. Stattdessen "1-A-Qualität", vorzugsweise aus Deutschland und Österreich, darauf legt Thomas Grün Wert. Nur: Die gibt es immer seltener. Für Betriebswirt Grün liegt auf der Hand, warum: "Die Lohnkosten für die Fertigung von BHs sind zu hoch, deshalb wird die Produktion in Billiglohnländer wie China, Vietnam oder Bangladesh verlagert. Die Hersteller der Dessous-Materialien wandern gleich mit ab - der Transport ihrer Produkte würde sie zu viel kosten."

Während die Produzenten von Massenware um ihren Platz in einer globalisierten Wirtschaft kämpfen, hat Claudia Specht ihre Nische gefunden. Flink, behutsam nimmt sie weiter Maß. Nur wenn sie ihr Faible für Feines untendrunter verteidigt, blitzen die Augen. "Es ist das Erste, was ich morgens an- und das Letzte, was ich abends ausziehe", streitet sie für ihre Produkte, "darin möchte ich mich den ganzen Tag über jede Sekunde lang wohlfühlen". Ihre Begeisterung steckt an. Nur, wie bitte lässt sich das den Sparbrötchen zuhause erklären, die Herrenslips im Dreierpack für 9,90 Euro abonniert zu haben scheinen? Da ist Fingerspitzengefühl gefragt. Diesmal im übertragenen Sinn.

Von Birgit Schenk