Diagnose Schlaganfall mit 24 Jahren: Auf einen Schlag ist...

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Es ist der 17. März 2012 als Meike Mittmeyer-Riehl, damals 24 Jahre alt, auf dem Badezimmer-Boden liegt. Ihre linke Körperhälfte ist taub. Wenig später im Klinikum Darmstadt...

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. Dieser 17. März 2012, der erste, schöne, sonnige Frühlingstag des Jahres, ist kein Tag zum Sterben. Tage zum Sterben, das sind doch diese grauen, kalten, verregneten Tage im November. Dennoch weiß ich, dass er das gewesen sein soll: der letzte Tag meines Lebens. Ich denke diesen Gedanken ganz ruhig, beinahe gleichgültig. Ich habe keine Schmerzen, im Gegenteil, fühle mich sogar sonderbar leicht. Ich bin bei vollem Bewusstsein, und doch ist eine Hälfte von mir nicht da: Meine komplette linke Körperseite ist taub, weg, so als hätte man mich mit einem riesigen Filetiermesser in der Mitte durchgeschnitten. Ich liege im Badezimmer auf dem Boden und betrachte milde interessiert die weiße Decke über mir, während ich darauf warte, dass es zu Ende geht. Doch dann – ein ziemlich kräftiges Kribbeln wie von tausend Ameisen, so wie einem der Arm kribbelt, wenn man nachts mal zu lange darauf gelegen hat. Plötzlich ist meine linke Körperseite wieder da. Als mein Freund zurück ins Bad stürmt, nachdem er den Notarzt gerufen hat, stehe ich schon wieder auf eigenen Beinen.

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Meike Mittmeyer-Riehl. Foto: Dennis Riehl  Foto: Dennis Riehl

„Schlaganfall!“ Es ist nur dieses eine Wort, das ich aus den Erklärungen einer jungen Ärztin aufschnappe, die mir wenig später im Klinikum Darmstadt meine unfassbare Diagnose überbringt. Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon einige Untersuchungen hinter mir, die ich in einer für mein quirliges Wesen so völlig untypischen – stoischen Ruhe über mich ergehen ließ. Denn ich habe die tiefe Gewissheit im Herzen, dass das alles hier nur ein ganz großer, blöder Irrtum ist. Ich liege auf der Darmstädter Stroke Unit, einer Schlaganfall-Spezialstation, angeschlossen an unzählige Kabel und Monitore. Nein, es kann kein Schlaganfall gewesen sein. Ich bin 24 Jahre alt, sportlich, Nichtraucherin, und bin noch vor wenigen Stunden mit meinem Freund über den Tennisplatz gerannt. Dass ich schon beim Tennisspielen plötzlich seltsame Kopfschmerzen hatte, dass ich Mühe hatte, Sätze zu formulieren, und dass ich wenig später im Bad halbseitig gelähmt zusammenbrach, schiebe ich jetzt weit von mir. Es muss eine ganz harmlose Erklärung für all das geben. Als man mir mitteilt, dass ich in der Klinik bleiben muss, dass ich nicht mehr aus dem Bett aufstehen darf, nicht mal zum Zähneputzen, lache ich beinahe. Fast erwarte ich, dass jeden Moment die Tür aufgeht und jemand „Willkommen bei der versteckten Kamera!“ ruft. Das muss doch ein Witz sein?!

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„Sie haben sehr viel Glück gehabt“

Doch die Stimmung kippt schnell. Eine weitere Untersuchung bringt absolute Gewissheit. Bei der sogenannten Angiografie wird über die Hauptschlagader in der Leiste ein Katheter in die Arterie eingeführt, der bis in meine Halsgefäße hochgeschoben wird. Genau dort sitzt die Ursache für meinen Schlaganfall: Sie nennt sich „spontane Dissektion“. Dabei spaltet sich die Innenwand einer der wichtigen hirnversorgenden Halsschlagadern auf – so, als würde man einen Reißverschluss öffnen. Durch die Wunde entsteht ein Gerinnsel, das Gefäß wird verstopft. Dann kommt es zum Infarkt. Warum das passiert ist, kann mir allerdings niemand sagen. Um das Gerinnsel in meiner Halsschlagader aufzulösen, bekomme ich starke blutverdünnende Medikamente. Zum ersten Mal, seitdem das alles passiert ist, fühle ich mich jetzt wirklich krank. Todkrank. Von draußen auf dem Flur bekomme ich manchmal Gespräche von Pflegern mit, die sich darüber unterhalten, was sie am Wochenende unternommen haben. Sie reden ganz selbstverständlich von einer Welt, die für mich in diesem Moment so weit weg ist wie eine entfernte Galaxie. Das, was für mich ja auch noch bis vor ein paar Tagen selbstverständlich war, klingt auf einmal wie ein schöner, aber unerreichbarer Traum. Vielleicht ist alles vorbei. Es ist das erste Mal, dass ich tief in mir drin, irgendwo zwischen Herz und Magengegend, eine kalte, lähmende Leere aufkommen spüre. „Sie haben viel Glück gehabt“ ist ein Satz, den ich in den folgenden Tagen und Wochen immer wieder höre. Doch es gibt Momente, in denen es mir als größeres Glück erschienen wäre, an jenem ersten schönen Frühlingstag des Jahres einfach zu sterben.

Körperlich erhole ich mich nach zwei Wochen Krankenhaus und vier Wochen Reha schnell, doch die quälende Frage nach dem „Warum“ verfolgt mich wie ein dunkler Schatten. Besessen vom Drang, Antworten zu finden, sauge ich jeden noch so kleinen Schnipsel Information zu meiner Schlaganfallursache auf, wälze Fachliteratur und Studien. Viel finde ich nicht. Die spontane Dissektion ist eine äußert seltene Erkrankung, trifft nur circa zwei bis drei von 100.000 Menschen. Für Schlaganfälle bei Jüngeren unter 55 ist sie allerdings eine der häufigsten Ursachen.

Es gibt Vermutungen, dass eine genetisch bedingte Bindegewebsschwäche dahinter steckt. Doch eindeutige Antworten gibt es nicht. Ich lasse mich auf verschiedene Bindegewebserkrankungen untersuchen, klappere Unikliniken ab, treffe mich mit Experten. Es ist möglich, dass ich einen weiteren Schlaganfall bekomme, der dann auch schlimmere Auswirkungen haben könnte als mein erster, ist die einzige einigermaßen konkrete Einschätzung, die aus meinen Recherchen hervorgeht. Es kann aber genauso gut sein, dass es eine einmalige Geschichte bleibt. Inmitten meiner aussichtslosen Suche weiß ich auch gar nicht mehr, wovor ich mehr Angst habe: Davor, niemals Antworten zu finden, oder vor einer Wahrheit, die ich nicht hören will.

Angst- und Panikattacken, Schwindel und Depression

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Meine verbissene Recherche, die ich über Jahre fortführe, raubt mir die Kraft. Der Schlaganfall, den ich so glimpflich überstanden habe, holt mich plötzlich psychisch ein: mit Angst- und Panikattacken, Schwindel, Depressionen. Es ist ein langer Weg heraus aus dem Loch aus Angst, Wut und Verzweiflung. Aber ich finde ihn.

Im Moment muss mir die Antwort genügen, dass die moderne Medizin auf meine drängende Frage nach dem „Warum“ noch keine Antwort kennt. Es ist schwer, Ungewissheit zu akzeptieren. Aber mit jedem Tag, an dem ich gesund aufwache, wird es etwas leichter. Und inzwischen kann ich die guten Seiten sehen, die diese harte Prüfung mit sich gebracht hat: Sie hat mich zu vielen positiven Veränderungen angestoßen. Ich habe den Job gewechselt und arbeite nur noch in Teilzeit. Ich packe das Leben beim Schopf, anstatt Wünsche und Träume immer nur auf eine ferne Zukunft zu verschieben, die vielleicht niemals kommt. Wenn ich durch die Welt reise oder die Konzerte meiner Lieblingsbands besuche, fühle ich mich dabei so lebendig, wie ich es vorher wohl kaum je hätte tun können. Denn heute weiß ich: Es ist alles andere als selbstverständlich. Nein, der 17. März 2012 war kein Tag zum Sterben. Sondern der Tag, an dem mir das Leben eine zweite Chance geschenkt hat. Und die nutze ich.

Von Meike Mittmeyer-Riehl