„Unwort des Jahres“ heißt „Anti-Abschiebe-Industrie“
CSU-Landesgruppenchef Dobrindt hat für eine Jury das „Unwort des Jahres“ 2018 geprägt. Die Jury sieht nicht zuletzt durch diese Äußerung den politischen Diskurs nach rechts gerückt.
Von Stefan Benz
Kulturredaktion Darmstadt
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DARMSTADT - Die Zahlen sinken, die Debatte aber schwillt nicht ab. Im Jahr 2015 öffnete Deutschland die Grenzen, ließ Hundertausende ins Land. „Willkommenskultur“ wurde das Wort des Jahres in Österreich, in Deutschland benannte die Jury in Wiesbaden den Begriff „Flüchtlinge“. Ein Jahr später erreichte die Zahl der Asylanträge mit 750.000 ihren historischen Höhepunkt. Mittlerweile ist die Zahl der Anträge um rund 70 Prozent gefallen, aber die Wortwahl hat sich eher verschärft: „Anti-Abschiebe-Industrie“ lautet denn auch das Unwort des Jahres 2018, das eine ehrenamtliche Jury aus vier Sprachwissenschaftlern, einem Journalisten und einem Kabarettisten am Dienstag in Darmstadt benannte.
Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, hatte davon im Mai 2018 in einem Zeitungsinterview gesprochen. Es ging damals um Klagen gegen die Abschiebung von Kriminellen, was Sabotage des Rechtsstaats sei und angeblich den gesellschaftlichen Frieden gefährde. Im politischen Diskurs hat der Begriff „Anti-Abschiebe-Industrie“ den infamen Effekt, dass er das Bild von Fabrikationsstätten erzeugt, in denen Asylberechtigte wie am Fließband produziert werden, wobei sich Anwälte die Taschen füllen.
Das Unwort 2018 zeige, „wie sich der politische Diskurs sprachlich und in der Sache nach rechts verschoben hat und sich damit auch die Sagbarkeitsregeln in unserer Demokratie in bedenklicher Weise verändern“, heißt es in der Pressemitteilung zur sprachkritischen Aktion.
Das "Unwort des Jahres 2018" lautet "Anti-Abschiebe-Industrie". Zum "Unwort des Jahres" wird seit 1991 alljährlich ein Begriff gekürt, der gegen das "Prinzip der Menschenwürde" oder gegen "Prinzipien der Demokratie" verstößt.
(Foto: dpa )
Dass der Begriff vom Politiker einer Regierungspartei stammt, sorgte für das Votum der Jury. Nicht minder zynisch, ist ja der ebenfalls gegeißelte Begriff „Menschenrechtsfundametalismus“, der allerdings von einem Lokalpolitiker stammt. Der grüne Boris Palmer hat ihn via Facebook in die Diskussion geworfen. Der rhetorisch rauflustige Tübinger Oberbürgermeister verwendete den Begriff in der Debatte um die Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Die Unwort-Jury kritisiert, Palmers Wortwahl diskreditiere Menschenrechte als „bloße Gesinnung“, dabei handele es sich doch um „fundamentale Rechte“.
Themen "Flucht und Migration" überlagern alles
Sprachkritik
Seit 1991 wird das Unwort des Jahres gewählt (damals: „ausländerfrei“), zunächst von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden, seit 1994 von einer eigenen Unwort-Aktion. Bis Jahresende konnten Bürger Begriffe einsenden, aus denen eine Jury das Unwort auswählte. Das seit 1971 von der Wiesbadener Sprachgesellschaft ausgerufene Wort des Jahres lautete 2018 „Heißzeit“.
Auch der dritte inkriminierte Begriff „Ankerzentren“ gehört zum Themenkreis Flucht und Asyl. „Anker“ klingt ja nach sicherem Hafen, ist aber eine Abkürzung aus den Begriffen Ankunft, Entscheidung, Rückführung. Es handele sich also um einen „unangemessen Euphemismus“, heißt es in der Pressemitteilung.
„Es gab noch andere wichtige Themen als Flucht und Migration“, räumte Jury-Sprecherin Nina Janich ein, „aber diese Themen überlagern alles.“ Drei Viertel der über 900 Vorschläge an die Jury mit über 500 verschiedenen Ausdrücken gehörten zu diesem Gebiet. „Es ist anfällig für polemische und diffamierende Kampfbegriffe und Euphemismen“, ergänzte die Linguistikprofessorin an der Technischen Universität Darmstadt. „Deswegen üben wir auch immer wieder Sprachkritik daran.“
Unter den Einsendungen an die Jury fanden sich auch der 122 Mal genannte „Asyltourismus“ (bereits 2013 war „Sozialtourismus“ Unwort des Jahres). „Ankerzentrum“ wurde 13 Mal eingereicht, „Anti-Abschiebe-Industrie zehn Mal, „Menschenrechtsfundamentalismus“ nur zwei Mal.
Lediglich 70 von 508 vorgeschlagenen Begriffen entsprachen überhaupt den Kriterien der „Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres“, die es seit 1994 gibt. Deren Ziel ist es, Begriffe zu brandmarken, die gegen Prinzipien von Demokratie und Menschenwürde verstoßen, gesellschaftliche Gruppen diskriminieren, beschönigend, verschleiernd oder irreführend sind.
Von Mitte der Neunziger bis 2010 avancierten vor allem Begriffe aus dem Bereich der Wirtschaft zum Unwort (Peanuts, Ich-AG, betriebsratsverseucht). Populistische Debatten haben in jüngerer Zeit dazu geführt, dass ideologische Kampfbegriffe wie „Lügenpresse (2014) und „Volksverräter“ (2016) in den Vordergrund rücken. Im Jahr 2017 war „alternative Fakten“ Unwort des Jahres.