Mittendrin im Unionsstreit: Bilanz mit Julia Klöckner nach 100 Tagen als Ministerin in Berlin
Seit gut 100 Tagen regiert die Groko in Berlin. Ob sie ihren 200. Tag erlebt, ist alles andere als sicher. CDU und CSU streiten über die Flüchtlingspolitik - ein Thema, das auch der Ernährungsministerin Julia Klöckner, stellvertretende CDU-Vorsitzende, intensiv am Herzen liegt. Sie sei heiter und zuversichtlich, sagte sie dieser Tage. Ihren Optimismus wird sie brauchen.
Von Reinhard Breidenbach
Leitung Politikredaktion, Chefreporter
Ernährungsministerin Klöckner mit Bundeskanzlerin Merkel und dem CSU-Vorsitzenden Seehofer. Fotos: dpa; Montage: vrm/ap
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BERLIN - Im Arbeitszimmer der Bundesernährungsministerin Julia Klöckner in der Berliner Wilhelmstraße sitzt ein grasgrüner Hase. Nicht erstaunlich, sind doch die Dinge manchmal verwirrend, im politischen Berlin. Der Hase ist eine Figur, nachempfunden dem Aquarell "Feldhase" des berühmten Malers Albrecht Dürer, geboren in Nürnberg, 1471. Der berühmte Ministerpräsident Markus Söder (CSU), ebenfalls in Nürnberg geboren, 1977, hat den Hasen Julia Klöckner vor einiger Zeit geschenkt.
Ungeachtet dessen schwelt im politischen Berlin wegen der Flüchtlingspolitik eine Regierungskrise, interessanterweise zwischen CDU und CSU. Mittendrin: Julia Klöcker, in der CDU stellvertretende Bundesvorsitzende und rheinland-pfälzische Landeschefin. Es fügt sich gut, dass ihr das Thema ohnehin am Herzen liegt. "Keine Integration ohne Frauenrechte" - darüber hat sie kürzlich ein Buch veröffentlicht.
Mal wieder nur Komödienstadel bei der CSU? Ganz ungefährlich ist die Lage offenbar nicht, vor allem nicht für die Republik. Und so kommt es, dass Julia Klöckners Lachen nicht wirklich befreit klingt, wenn man sie des Abends, wenn es schon dunkel ist, unten auf der Wilhelmstraße darauf aufmerksam macht, dass oben in ihrem Arbeitszimmer noch Licht brennt und anfügt: "Vielleicht ist das der Seehofer, der will spionieren." Andererseits duzen sich Seehofer und Klöckner und dealen gerade eine Grundgesetzänderung aus, um Küsten- und Landschaftsschutz zu verbessern. Seehofer war früher auch mal Ernährungsminister. Er werde von Söder und Stoiber gegen Merkel aufgehetzt, sagen die Berliner Auguren.
VITA KLÖCKNER
. Geboren 16.12.1972 in Bad Kreuznach. Studium Politik und katholische Theologie. 1995 Deutsche Weinkönigin. Lehrerin, danach Journalistin.
. 1997 Eintritt in die Junge Union. 2002 Einzug in den Bundestag über die Landesliste. 2005 und 2009 jeweils Erringung des Direktmandats im Wahlkreis Bad Kreuznach. Ab Oktober 2009 bis 2011 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Ministerin: Ilse Aigner, CSU).
. Seit 2010 CDU-Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz. Seit 2012 stellvertretende Bundesvorsitzende. 2011 und 2016 CDU-Spitzenkandidatin bei den Landtagswahlen. Nach der Wahl 2011 regierte Rot-Grün mit Ministerpräsident Kurt Beck, nach der Wahl 2016 eine Ampelkoalition mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer. 2011 - 2018 war Klöckner Fraktionsvorsitzende im Landtag.
. Am 25.2.2018 gab die CDU Klöckners Berufung zur Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft bekannt, Ernennung am 14.3.2018.
Mittwoch, 20. Juni, 8.15 Uhr. Kabinettssitzung. Merkel und Seehofer hätten hernach noch unter vier Augen gesprochen - alles sei ruhig, so ist zu hören. Drei Stunden später tritt Seehofer in seiner Eigenschaft als Bundesinnenminister ans Rednerpult im Deutschen Historischen Museum, wo der jährliche Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen wird. Wer das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg kenne, sagt Horst Seehofer, "der kann ermessen, was Flüchtlinge heutzutage erleben." Heutzutage. Sodann spricht der Innenminister "der Frau Bundeskanzlerin einen ganz besonderen Dank" aus, ihre Anwesenheit mache den Tag zu etwas ganz Besonderem. Warmer Applaus im Auditorium. "Ich habe in der Presse gelesen", fährt Seehofer fort, "dass ich heute bei dieser Veranstaltung gar nicht dabei bin. Das war eine der vielen Falschmeldungen der letzten Tage." Kurz vor oder kurz nach der Gedenkstunde muss Horst Seehofer das Interview autorisiert haben, in dem es heißt, es sei "stillos", dass Merkel die CSU nicht über ihr Gespräch mit Macron am Vortag informiert habe.
Die Kanzlerin spricht nach Seehofer und sagt seelenruhig: "Flucht und Vertreibung prägen Vergangenheit und Gegenwart." Migration brauche Regeln, und Europa müsse diese Frage gemeinsam lösen.
Klöckner sitzt bei dieser Gedenkstunde, wie im Kabinett, nah bei Merkel und Seehofer. Sie wirkt nicht wie jemand, der Angst davor hätte, irgendwann zwischen den Stühlen zu sitzen. Nach der Gedenkstunde begrüßt sie Weggefährten und Bekannte im Auditorium. Wünsche nach einem dezenten Selfie schlägt sie nicht aus.
Rückblende. Vortag, Dienstag, 19. Juni. Berlin-Kreuzberg ist schrill, abgefahren, groovy. Das Bistro neben der "Markthalle 9" - rappelvoll. Wilde Typen sind dabei, einer mit Zylinder und - viel Hauptstadtpresse samt Kameras. Auftritt: Julia Klöckner. Ganz in Rot, hohe Pumps - Showtime. "Dufte Biene" hieß das früher im Berliner Jargon, mit allem Respekt. Die Bundesernährungsministerin zieht ihre Bilanz zu 100 Tagen ihrer Amtszeit. Genauer gesagt: Sie brennt ein Feuerwerk ab, 30 Minuten Vollgas, rhetorisch und inhaltlich nicht zu beanstanden, straff, konzentriert. Sie will ihr Haus zu einem Vorzeigeministerium für Digitalisierung machen. Ein staatliches Tierwohlkennzeichen müsse her. "Wir geben sehr viel Geld für unsere Kücheneinrichtungen aus, aber leider nicht so viel für unsere Lebensmittel." Mehr Grundlagenforschung für Qualitätsstandards der Kita-Verpflegung sei unverzichtbar.
Mehrmals kommen Nachfragen, ob sie denn das Pflanzenschutzmittel Glyphosat nicht komplett verbieten wolle. Doch da ist sie ganz Pragmatikerin: "So schnell wie möglich reduzieren, um Alternativen zu finden, um Glyphosat überflüssig zu machen." Ob die GroKo, die 100 Tage Amtszeit feiert, auch den 200. Tag noch erlebe? "Ich hab' noch keinen Koffer gepackt. Ich bin heiter und zuversichtlich." So was moderiert sie weg, lächelnd bis strahlend.
Es folgt ein sehr ausgedehnter Rundgang durch die Vorzeige-Markthalle. Die Macht der schönen Bilder. Gesundes Brot, Fleisch von einstmals vielleicht glücklichen Tieren. Im Keller süffiges Bier. "Habt ihr auch alle was gegessen?" Einer ihrer alten Schlachtrufe, wie Donnerhall. Zwar beendet sie in Berlin einen solchen Satz fast gar nicht mehr mit der Anrede "Jungs". Dennoch: Ja, da ist sie, diese unnachahmliche Mischung aus "Große Schwester", Frau Ministerin und "Atemlos durch die Nacht". In Rheinland-Pfalz hat sie damit manchmal einige genervt, egal ob Freund oder Feind. Aber hier, das ist Berlin. Politikbetrieb: dünne Luft, Haifischbecken. Aber auch die Stadt, die bei aller Schnodderigkeit und Arroganz liebenswert ist, positiv durchgeknallt, eine Stadt, die auch mal verzeiht, den wahren Kern von Leuten ziemlich gut erkennen und wertschätzen kann.
Parteifreunde haben Klöckner nach dem Landtagswahl-Desaster 2016 vorgeworfen, sie sei "zu viel Paris" und "zu wenig Pirmasens". Mal abgesehen davon, dass das allen drei Beteiligten - Klöckner, Pirmasens und Paris - überhaupt nicht gerecht wird: Vielleicht ist Berlin als Kompromiss sehr gut. Ein bisschen Abstand hilft manchmal. Sie telefoniert sehr viel nach Rheinland-Pfalz, ist oft dort, und wenn es nicht gerade Merkel oder Seehofer sind, die sie in der Leitung hat, dann ist der Lückenschluss der A 1 zwischen NRW und Rheinland-Pfalz dringender Anlass für die CDU-Landeschefin, zum Smartphone zu greifen.
Es gibt Spitzenbeamte im Ernährungsministerium, die könnten, rein vom Alter her betrachtet, Klöckners Vater sein. Der eine oder andere Haudegen, der eine oder andere Grande, gestählt in tausend Schlachten, gewieft, kenntnisreich bis in den letzten Winkel. Einer, der an diesem Tag nach 40 Berufsjahren 66-jährig mit allen Ehren in den Ruhestand verabschiedet wird, sagt: "Ich sehe das Haus in besten Händen." Er sagt auch: "Frau Ministerin, nehmen Sie das Haus bei Ihrer Rasanz mit."
In Gesprächen mit ihrer Führungsriege, darunter natürlich Frauen, redet Klöckner Klartext. Dafür bekommt sie, so der Eindruck, deutlich mehr als nur Loyalität. Despektierlich umschrieben: Wenn die Ministerin Klöckner hier - um im Metier zu bleiben - ackert, dann kann sie einen Laden rocken, der sich offenbar darüber freut, gerockt zu werden, der viel weiß und viel geplant hat und darauf wartet, dass die Post jetzt endlich abgeht. Was keine Kritik an Vorgängern sein muss. Agrar-Ressortchefs waren immer leicht angreif- und verschleißbar, vor allem in Mega-Krisen wie der Vogelgrippe. Es geht um wirklich viel, im Agrarressort, um Milliardensummen, um Natur, Lebensmittel, Gesundheit. Im Spiel sind alle EU-Mitgliedsländer, das EU-Parlament, die EU-Minister, die deutschen Minister, der Bundestag, die Bundesländer, das Kanzleramt. Nicht zuletzt: mächtige Interessenverbände.
Aus Ministeriumsrunden darf nicht zitiert werden, aber dort könnten Sätze fallen wie diese: "Wir müssen zuerst mit unseren Freunden in den Bundesländern klarkommen." (Ein Abteilungsleiter.) Klöckner: "Man beachte die Ironie." Und: "Wir gehen das an! Ich bin bereit, mir eine blutige Nase zu holen, aber die sollen nicht denken, wir hätten nix kapiert." "Die", das sind mächtige industrielle Lobbygruppen. Gerne rede sie mit denen, "aber die sollen hierher kommen, ich tanz' doch nicht bei denen an!" Die Ministerin erwähnt am Rande, dass es anfangs öfter 3 Uhr nachts wurde beim Aktenlesen.
Die abendliche Wilhelmstraße, flache Schuhe jetzt, die richtigen Schuhe zum richtigen Zeitpunkt sind ganz wichtig, gerade in Berlin. Leute im Freien vor einem Restaurant erkennen sie, "seid ihr aus der Pfalz?", ruft Klöckner fröhlich. "Aus de Kurpalz, aus Monnem" (Mannheim), tönt es lachend zurück, "auf Bildungsurlaub."
Was wird sein? Wie die akute Abwatscherei zwischen Merkel und Seehofer ausgeht, will niemand in Berlin prophezeien, aber eigentlich stehen die Zeichen auf Kompromiss. Merkel lehnt das, was Seehofer "Ankerzentren für Flüchtlinge" nennt - in der Tendenz also leichtere Zurückweisungen -, nicht wirklich ab. "Und woran erinnert uns das?", fragt Klöckner lächelnd. In der Tat. Klöckners Plan "A 2" sah so was vor, um vor der Landtagswahl 2016 die Probleme in den Griff zu bekommen. Bis heute ist umstritten, ob Klöckner die Wahl wegen A 2 verlor. Der Eindruck: Die Wunden sind vernarbt. Auch Narben spüre man hie und da, pflegt Bernhard Vogel zu sagen, den die rheinland-pfälzische CDU 1988 in einer beispielloser Harakiri-Aktion demontierte. Vogel wurde später hoch angesehener Ministerpräsident in Thüringen. Klöckner einte nach 2010 den heillos zerstrittenen Haufen.
Was hat sie nun vor? Sie wirkt gefasst, konzentriert, voller Energie, gleichwohl ruhig - für ihre Verhältnisse. Sie weiß, dass sie die Chance und das Zeug dazu hat, an Statur noch zu gewinnen. Das ist eine gute Basis. Den glamourösen Auftritt, gerne mit burschikosem Touch, den liebt sie nach wie vor. Sie genießt Aufmerksamkeit. Inhaltlich muss sie weiter ackern und Ergebnisse liefern. Beides hat sie drauf. Dann wird man sehen.
Sie scheint, weil jeder Mensch an persönlichen Umbrüchen wachsen kann und wohl auch wegen der Wahlniederlage 2016, jetzt besser gefeit vor Illusionen. Sie sagt: "Rheinland-Pfalz ist meine Basis." Aber sie gibt unumwunden zu, dass sie keine Option ausschließt. Sie spricht von "Stand- und Spielbein". Ob sie im Frühjahr 2021 Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl wird, hält sie sich offen. Zur nächsten Wiederwahl als Landesvorsitzende werde sie jedenfalls antreten.
Könnte sie auch Kanzlerin? Da liegt sie nicht ganz vorne. Bei einer Bundestagswahl im Herbst 2021 werde Merkel nicht mehr antreten, sagen Insider. Merkels eindeutige Favoritin ist Annegret Kramp-Karrenbauer. Immerhin: Wenn Merkel früher gehe, so heißt es, kämen vielleicht doch Leute nach vorne, die zwar eng mit Merkel sind, aber nicht ganz so eng wie Kramp-Karrenbauer.
Das Schicksal des grünen Hasen im Arbeitszimmer Julia Klöckners bleibt also in der Schwebe. Da seine Eigentümerin aber auf das Tierwohl eingeschworen ist, wird sicher alles gut.