Zeitzeugengespräch mit Edith Erbrich in Kostheimer Schule

KOSTHEIM - Ihr Taschentuch ist griffbereit, so als wolle sie das Gesagte gleich wieder abwischen, über den Hass und die Niedertracht der Nazis, damit nichts zurückbleibt auf den Lippen. Edith Erbrich ist eine, die damals „Halbjüdin“ genannt wurde. Aus Frankfurt, Jahrgang 1937, der Vater jüdischen Glaubens, die Mutter katholisch. Sie ist eine Holocaust-Überlebende, die im Konzentrationslager Theresienstadt befreit wurde und heute ihr Wissen weitergibt. Als Zeitzeugin spricht sie in der Wilhelm-Leuschner-Schule, einer Integrierten Gesamtschule. „Hitler hat so viel Leid über die jüdische Bevölkerung gebracht. Ich möchte, dass so etwas nie wieder passiert“, sagte sie den Neuntklässlern, die jedes Wort im Saal begierig aufnehmen. Und Fragen stellen über das Grauen. Ob behinderte Menschen ins Konzentrationslager kamen? Ja, natürlich, sagt Erbrich: Behinderte, Homosexuelle, alle, die nicht in die Norm der Nationalsozialisten passten.

Etwas mehr als 30 Minuten hat sie sich gegeben, dann werden über anderthalb Stunden daraus. Ihre Berichte über das Leben, Leiden, Überleben und Sich-Behaupten gehen unter die Haut. Kurz zuvor hatten sich die Schüler in Kastel bei einer Stolperstein-Aktion dem Thema Nationalsozialismus genähert und die Anne-Frank-Ausstellung im Rathaus besucht. Nun wird es authentisch. Zeitzeugin wollte Edith Erbrich nie werden, Mitleid lehnte sie ab. Bis dann eine Ausstellung über die Kinder im Konzentrationslager Theresienstadt folgte und sie gefragt wurde, weshalb sie sich so ausgiebig dafür interessiere. „Ich war dort“, erwiderte sie. Dann bekam sie eine Mitarbeit in der Landeszentrale für politische Bildung angetragen, nach einigem Zögern willigte sie ein.

Die Schule versteht es als ihre Aufgabe, der Nazizeit im Unterricht einen Platz zu geben, auch wenn die Zeit kurz vor Schuljahresende kaum Raum bietet. „Wir sind die Wilhelm-Leuschner-Schule, wir können die Schüler nicht weggehen lassen, ohne dass sie etwas davon gehört haben“, sagt Geschichtslehrer Dominik Zissel. Namensgeber Leuschner war Widerstandskämpfer, er wurde von den Nazis ermordet. Edith Erbrich berichtet aus dieser Zeit. Geboren im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt-Bornheim, aufgewachsen im Ostend. Eine Kindheit in einem starken Elternhaus, aber voller Diskriminierungen und Verletzungen. Ihren „Judenstern“, den jüdische Einwohner an ihre Kleider heften mussten, hat sie aufbewahrt. „Angst und Hunger prägten unsere Kindheit“, sagt Edith Erbrich.

Als das Konzentrationslager Auschwitz im Januar 1945 schon von der Roten Armee befreit war, wurden in Frankfurt noch immer Einwohner jüdischen Glaubens in Viehwaggons gepfercht und nach Theresienstadt gebracht, 60 Kilometer von Prag entfernt. Es war der schmerzlichste Tag ihres Lebens. Zusammen mit Vater und Schwester kam sie dorthin, Edith Erbrich war sechs Jahre alt. Die Verhältnisse waren fürchterlich. Sie erinnert sich daran, wie eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes in das Lager kam, das von der Nazi-Propaganda zu einer jüdischen Mustersiedlung verklärt worden war. Und es im Bericht dann hieß, dass alles wunderbar sei und es keine Mängel gäbe. „Doch für was gab es einen Erschießungsplatz und ein Krematorium?“, fragt sie. Dann die Episode mit den Aufseherinnen, welche die Kinder ein Loch schaufeln ließen und ihnen das Entladen eines Waggons mit Süßigkeiten in Aussicht stellten. Als der Waggon ankam, fielen Leichen heraus. „Da wussten wir, für was wir das Loch gegraben haben“, sagt sie. Und doch gab es die kleinen Wunder, mit dem Willen zum Überleben. Während der Deportation schrieb ihr Vater Postkarten und ließ sie durch die Ritzen zwischen den Planken der Waggons auf die Gleise fallen. Die Karten kamen alle zu Hause bei der Mutter an, es muss Menschen gegeben haben, die sie auf den Postweg gaben. Unlängst, berichtet die Zeitzeugin, besuchte sie die Stadt Rehovot in Israel. Dort begegnete sie einer Frau, die aus der gleichen Ecke wie sie in Frankfurt stammt und heute über 100 Jahre alt ist.

Ihren eigenen Geburtstag feiert Edith Erbrich wie andere auch. „Doch der Tag der Befreiung in Theresienstadt, der ist auch ein Geburtstag für mich“, sagt sie. Weshalb die Nazis in Deutschland die Juden so niederträchtig behandelten, wollen Schüler wissen. „Ich weiß es nicht. Für mich zählt nur der Mensch. Ende“, sagt Erbrich.