Zeitzeuge berichtet in Fliednerschule Wiesbaden-Bierstadt über seine Flucht aus Ostpreußen im ahr 1945
Von Barbara Yurtöven
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BIERSTADT - Lange hatte Georg Schneidereit vor keiner Klasse mehr gestanden. Und als Zeitzeuge war es für den ehemaligen Lehrer des Hessenkollegs ohnehin eine Premiere. Zwei Schulstunden lang berichtete der rüstige 86-Jährige den Schülern aus dem Jahrgang 9 der Theodor-Fliedner-Schule und ihrer Lehrerin Stephanie Matthees-Hadeler unaufgeregt, aber eindrucksvoll von seinen Erfahrungen.
Das Zeitzeugengespräch ist ebenso wie das Projekt „NS-Spurensuche in Wiesbaden“ Teil des Geschichtsunterrichts. Um den Kontakt zu dem Zeitzeugen, der aus Bad Soden in die Landeshauptstadt kam, hatte sich ein Schüler privat bemüht.
„Meine Erfahrung ist, dass auf so einer Flucht Männer und Frauen höchst unterschiedlich reagieren: Männer denken und Frauen handeln“, brachte Schneidereit seine Fluchterfahrung auf den Punkt. Einer handelnden Frau, der Mutter, hatte es nämlich die Familie zu verdanken, dass sie stets rechtzeitig weiterzog, wenn es brenzlig wurde. Dass alle fünf Schneidereits zusammen mit einem kleinen Schlepper nach Pillau gelangten, obwohl der Vater noch an der Gangway von einem Feldgendarmen eigentlich zum Verbleib für den Volkssturm rekrutiert worden war. Die Mutter entschied auch in Gotenhafen das fast schon erreichte große Schiff nicht zu nehmen und den Landweg zu wählen, nachdem die Nachricht vom Untergang der „Wilhelm Gustloff“ die Runde machte. Sie war es, die einen leeren Lazarettzug ausmachte und die Stabsärzte überzeugte sie mitfahren zu lassen. Und die Mutter war es auch, die die Familie überhaupt zur Flucht vom Bauernhof in der Nähe von Tilsit drängte, als andere sich noch nicht von der Heimat trennen wollten.
Mit zwölf Jahren war Georg Schneidereit auf der Flucht. Er war es, der Pferde und Wagen lenkte, als sie im Oktober 1944 den Hof verließen. Glücklicherweise. „Denn nach der ersten Großoffensive der russischen Armee gab es viele Tote unter den Zurückgebliebenen“, berichtet er. „Einzelheiten kann ich Ihnen hier aber wirklich nicht schildern“, sagte er sichtlich bewegt.
Dass solche Erlebnisse, selbst wenn sie schon viele Jahrzehnte zurückliegen, einen Menschen immer noch sehr aufwühlen, das wurde den Schülern bei Schneidereits Vortrag gleich mehrmals deutlich. Beim Erzählen vom Abschied vom elterlichen Hof in Ostpreußen und auch bei den Schilderungen der Eindrücke vom nächtlichen Zug jüdischer Frauen durch Palmnicken im Januar 1945, die Leiterwagen mit ihren Leichen am nächsten Tag und die nächtliche Passage der Familie mit dem Schlitten als Lasttransporter zum Bahnhof, als man an der Stelle vorbeikam, an dem die Nazischergen die Frauen offensichtlich getötet hatten. „Ich habe versucht, auszuweichen, aber es war einfach alles voller Blut“.
Die Familie gelangte über weitere Stationen bis nach Niebüll an der Nordsee. Dort ging Georg auch wieder zur Schule. „Und als der Krieg aus war wusste ich nicht, wie wir in der Schule jetzt grüßen sollten – wir kannten ja nichts anderes als Krieg und Nazipropaganda“.