Das neue Kooperationsbündnis hat eine derart breite Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung, dass sich die Partner das Spielchen mit den Denkzetteln leicht erlauben...
WIESBADEN. Das neue Kooperationsbündnis hat eine derart breite Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung, dass sich die Partner das Spielchen mit den Denkzetteln leicht erlauben können ohne den Abstimmungserfolg zu gefährden. Und dann darf fröhlich spekuliert werden, wo die Abweichler zu finden sind. Die Sozialdemokraten mutmaßen die Neinsager bei der Wahl des neuen Sozialdezernenten Christoph Manjura in der CDU, die Union weiß, dass auch der künftige Bürgermeister Oliver Franz nicht alle Stimmen aus der Kooperation bekommen hat, nachdem die AfD angekündigt hatte, den Ordnungsdezernenten zu unterstützen. Egal. Am Ende lagen sie sich alle selig in den Armen. Als bei der kleinen Feier, zu der die Gewählten die Stadtverordneten ins Brauhaus am Schloßplatz geladen hatten, schon der Freitag angebrochen war, dachte niemand mehr an den krachenden Fehlstart des jungen Bündnisses. Die irre Idee, die scheidende Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz nicht im Stadtmuseum auszustellen, sondern sie mit einer Leitungsaufgabe versorgen zu wollen, war abgehakt. Frühlingsgefühle allenthalben.
Nur bei der AfD war die Aufbruchstimmung verflogen. Trickreich wie einst der berühmte Rattenfänger versuchen sie, neue Anhänger hinter sich zu scharen. Diesmal mit einem alten Antrag der Piraten, die schon 2011 eine Liveübertragung der Stadtverordnetensitzungen gefordert hatten, damals aber gescheitert waren.
Stolz verwies am Donnerstag der Fraktionsvorsitzende Eckhard Müller auf das Votum des Jugendparlaments (Jupa), das den AfD-Antrag unterstützt. Das tat der Jupa-Vorsitzende Silas Gottwald in zwei zugegebenermaßen erfrischenden Redebeiträgen auch noch einmal in der Stadtverordnetenversammlung: Es handele sich um einen ideologiefreien und sachlichen Antrag, der ausschließlich positive Aspekte liefere. „Es gibt keinen Grund, ihn abzulehnen.“ Nun, wir haben früher gelernt, nicht gleich jedem Onkel nachzulaufen, und wenn er noch so schöne Lieder pfeift.
Die anderen Fraktionen, die alle mit eigenen Anträgen reagierten, stellten die Ernsthaftigkeit des AfD-Ansinnens infrage. So wunderte sich Andreas Winkelmann (FDP), dass ausgerechnet eine Partei einen Livestream aus dem Rathaus beantragt, die andernorts die Presse von ihren Parteitagen ausschließt. Das forderte Robert Lambrou heraus. Er stellte ein „besonderes Verhalten“ gegenüber der AfD fest und wünschte sich, die anderen mögen sie doch als „gleichberechtigte Fraktion“ betrachten. „Mir scheint, dass Sie uns mit einigen ostdeutschen Landesverbänden verwechseln.“ Winkelmann gab auf diesen kuriosen Versuch, die Wiesbadener AfD als weichgespülte AfD zu stilisieren, die passende Antwort: Als FDP-Mitglied und Funktionsträger lasse er sich „natürlich Positionen anderer Landesverbände der Liberalen und der Bundespartei zurechnen“.
Auf einem ganz anderen Blatt steht die Sinnhaftigkeit des Livestreams. Selbst der Pirat Jörg Sobek bekannte, es gebe tausend Gründe, nicht zu einer Sitzung des Stadtparlaments zu gehen. „Donnerstag von 16 bis 23 Uhr ist einer.“ Sieben ermüdende Stunden liefern freilich genauso einen Grund dafür, sich das auch daheim nicht anzutun. Die „Einschaltquoten“ werden sich spätestens bei der zweiten Sitzung in engen Grenzen halten. Und dann werden die Interessierten wieder dankbar sein, dass es die Zeitung gibt, die das Geschehen der Mammutsitzung filtert, einordnet und bewertet.
Ein Aspekt, der verdeutlicht, dass durch eine Übertragung der Stadtverordnetensitzungen allein Transparenz nicht wirklich hergestellt wird, offenbarte sich, als Thomas Preinl (LKR) beklagte, dass die Bereitstellung von günstigem Wohnraum für Flüchtlingsfamilien zu später Stunde dalli-dalli durchgekeult wurde. „Nichts gegen Livestreaming und Sektempfänge – aber es gibt wichtigere Dinge.“ Recht hat er. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Christoph Manjura verwies indes darauf, dass das Thema im Fachausschuss schon ausführlich behandelt worden sei. Wenn aber im Plenum, was ja oft genug der Fall ist, nur durchgewunken wird, was zuvor in Ausschüssen diskutiert wurde, muss man nicht aus dem Parlament, sondern eben aus den Ausschüssen „streamen“. Dazu sei hier darauf hingewiesen, dass auch diese Sitzungen im Regelfall nicht vergnügungssteuerpflichtig sind. Das gilt mit Sicherheit für den Ausschuss für Bürgerbeteiligung und Netzpolitik, der sich nun dank eines einstimmigen Votums des Parlaments mit allen Anträgen zum Livestreaming beschäftigen wird.