Bulgaren steigen in Firmenautos, jeden Morgen. Ein Arbeiterstrich im Wiesbadener Westend? Seit Jahren hält sich dieses Gerücht. Die Arbeitgeber versichern aber: legale...
WIESBADEN. 5.45 Uhr, ein milder Herbstmorgen. Die Dunkelheit liegt noch über der Wellritzstraße. Rund 30 Männer, fast alle in grüner Arbeitskleidung und mit einem Rucksack bepackt, stehen vor einem hell beleuchteten Kiosk. Die Arbeiter rauchen, trinken Kaffee und plaudern, auch um diese Uhrzeit nicht gerade leise. Die meisten stammen aus Plovdiv und sprechen Bulgarisch und Türkisch – rund um die bulgarische Stadt lebt eine große türkische Minderheit. Einige Meter weiter herrscht Hochbetrieb beim Bäcker, der von den vielen wartenden Arbeitern profitiert. Am Kiosk fällt ein türkischstämmiger Mann mit grauschwarzem Bart auf: Er läuft zwischen den Arbeitern hin und her und gibt Anweisungen, teilt sie in einzelne Grüppchen ein. Vor der Spielhalle an der Ecke Hellmundstraße wartet ebenfalls eine Gruppe in Arbeitskleidung.
Nach einer Weile halten zwei Transporter vor dem Kiosk. Eine Gruppe von Arbeitern bewegt sich sofort in Richtung der Wagen, steigt ein und fährt weg. Nach und nach wiederholt sich dieser Vorgang, mit jedem Mal verschwindet ein weiterer Schwung von Arbeitern. Mal sind es Transporter, mal grüne Kombi-Wagen. Die Grüppchen scheinen genau zu wissen, in welchen Wagen sie einsteigen müssen. Gegen 7 Uhr ist die Straße leer gefegt. An zwei anderen Tagen sind die gleichen, eingespielten Vorgänge zu beobachten, die Männer werden von denselben Transportern eingesammelt.
Gerüchte ohne Beweise
Seit Jahren hält sich das Gerücht hartnäckig, dass sich ein sogenannter Arbeiterstrich an dieser Ecke im inneren Westend befindet. Tagelöhner würden dort ihre Arbeitskraft anbieten, illegal, ohne Papiere oder soziale Absicherung. Ein System der Ausbeutung habe sich entwickelt. Die schwierigen Lebensumstände von Arbeitsmigranten aus Ost- und Südeuropa sind in ganz Deutschland und auch in Wiesbaden bekannt. Aber kann man die Vorgänge morgens in der Wellritzstraße wirklich als illegalen Arbeiterstrich bezeichnen?
Denn bewiesen ist bis heute nichts, es wird gemutmaßt, Meinungen beruhen auf Hörensagen. Die Stadtteil-SPD hat sich im Juni dieses Jahres der Sache angenommen und einen Antrag im Ortsbeirat Westend formuliert. Darin fordert sie den Magistrat auf, gemeinsam mit Polizei und Zoll der Angelegenheit nachzugehen und die „illegale Vermittlung von Schwarzarbeitern zu unterbinden“. In dem vom gesamten Ortsbeirat angenommenen Antrag lautet es in der Begründung: „Wir halten diesen offensichtlichen ‚Arbeiterstrich‘ für unhaltbar und untragbar.“ Daraufhin hat die Stadtpolizei zwischen dem 10. und 16. Juli täglich die Straße zwischen 5 und 6.30 Uhr beobachtet: „Mehrere Personen fanden sich im inneren Westend ein, um sich vermutlich als Arbeitskraft anzubieten. Nach einiger Zeit wurden die Personen von Transportern abgeholt“, steht in einem Schreiben der Stadt an den Ortsbeirat, das dieser Zeitung vorliegt – auch hier heißt es „vermutlich“. Die Informationen seien an das zuständige Hauptzollamt weitergeleitet worden. Mit dem Hinweis, dass hier der „Verdacht der illegalen Vermittlung sowie der Durchführung von Schwarzarbeit vorliege“.
Zoll: „Personen müssen bei der Arbeit angetroffen werden“
Doch die Abteilung Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Hauptzollamts Darmstadt, das für Wiesbaden zuständig ist, sieht gar keine Veranlassung für eine Kontrolle. Auf Anfrage dieser Zeitung im Dezember, ob denn Maßnahmen nach dem Bericht des Ordnungsamts unternommen worden sind, teilt Zoll-Pressesprecher Udo Michael Bäumle mit: „Nach geltender Rechtslage müssen Personen konkret beim Arbeiten angetroffen werden. Alleine, dass Personen in Arbeitskleidung am Straßenrand stehen, ohne dass eine Arbeitstätigkeit zu erkennen ist, stellt keinen Prüfungsgrund dar. Daher wurden keine konkreten Maßnahmen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ergriffen.“
Ob die FKS plant, in Zukunft im Westend zu kontrollieren, will sie zwar nicht ganz ausschließen. Aber man kann davon ausgehen, dass das wohl nicht geschehen wird: „Im Rahmen der Prüfung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit werden keine bestimmten Örtlichkeiten überwacht.“ Zudem konzentrierten sie sich darauf, die großen Betrugsfälle aufzudecken, weil die Kontrollen einen zeitlich hohen Aufwand kosteten. Da nun seit einem halben Jahr nichts passiert ist, kann man davon ausgehen, dass dies nach Einschätzung des FKS wohl nicht auf das Westend zutrifft.
Die meisten Arbeiter, die morgens in der Wellritzstraße abgeholt wurden, werden zwischen 16 und 17 Uhr wieder an der gleichen Stelle abgesetzt. Einige von ihnen trinken noch einen Feierabend-Kaffee vor dem Kiosk. „In den letzten Jahren hat sich einiges zum Positiven verändert. Es gibt unter den Leuten, die hier eingesammelt werden, keinen, bei dem die Beschäftigung nicht angemeldet ist“, erzählt ein Bulgare, der seit vier Jahren in Wiesbaden lebt und anonym bleiben will. „Wir vier haben alle einen offiziellen Vertrag, wo auch alle Arbeitsstunden aufgeführt sind.“
Arbeitgeber versichert legale Beschäftigung
Einer der Arbeitgeber, der am Morgen zu beobachten war, wie er Arbeiter abholte, erklärt sich im Gespräch mit dieser Zeitung. Er beschäftige zehn Bulgaren, alle seien fest angestellt, darunter kein Mini-Jobber. „Ich bin schon seit 15 Jahren in der Garten- und Landschaftsbau-Branche tätig und habe mir einen Ruf in der Region erarbeitet. Ich würde doch nicht mein Unternehmen riskieren, weil ich vielleicht 50 Euro am Tag sparen würde“, sagt der kurdische Türke, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Zudem habe der Zoll seine Mitarbeiter vor zwei Jahren auf einer Baustelle kontrolliert, die Beamten hätten nichts Illegales entdecken können.
Er weiß aber um die Situation von Bulgaren oder Rumänen, auch dass sie von einigen Arbeitgebern ausgenutzt werden. Diese Firmen sparten vielleicht kurzfristig Geld, aber langfristig würde so etwas Illegales ans Tageslicht kommen, weil die Kontrollen in den vergangenen Jahren verschärft worden seien. „Doch unter den etwa 50 Menschen, die morgens im Westend stehen, sind – wenn überhaupt –, vielleicht mal einer oder zwei dabei, die als Tagelöhner dort auf einen Job hoffen.“ Der Mann kennt die anderen Arbeitgeber, die morgens ihre Mitarbeiter im Westend abholen und nennt auch ihre Namen. Jeder habe seinen eigenen Treffpunkt: der Kiosk in der Wellritzstraße, die Ecke Hellmundstraße, ein Kiosk in der Walramstraße und die Ecke Bismarckring/Bleichstraße beim Bäcker Klein.
„Das sind seit Jahren die gleichen Arbeitgeber, die wären doch dumm, wenn sie illegal Mitarbeiter beschäftigen und sich mitten in der Stadt jeden Morgen an derselben Stelle treffen würden.“ Vor fünf, sechs Jahren sei vielleicht so etwas wie ein Arbeiterstrich üblicher gewesen. „Aber für die Firmen, die ihre Mitarbeiter im Westend einsammeln, weil die meisten dort wohnen, kann ich das nicht bestätigen. Natürlich kann ich für niemanden Garantien geben. Wenn jemand Zweifel hat, kann er uns aber jederzeit kontrollieren“, sagt der Türke selbstsicher.
DGB-Berater zweifelt an Tagelöhner-Strich
Für Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa, die von ihren Arbeitgebern ausgenutzt werden, setzt sich seit 2011 die Beratungsstelle „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Frankfurt ein. Ivan Ivanov, ein bulgarischstämmiger Mitarbeiter, hat sich nach Gesprächen mit dieser Zeitung selbst ein Bild von der Situation in der Wellritzstraße gemacht und vor Ort Visitenkarten verteilt. Dass sich jemand einfach an die Straße gestellt und auf einen Job gehofft habe, konnte er an diesem Morgen nicht beobachten. „Das war alles aufeinander abgestimmt, sie waren Kollegen und trugen auch alle einheitliche Arbeitskleidung“, sagt Ivanov. Natürlich könne er nichts Abschließendes über die Beschäftigungsverhältnisse sagen, dafür müsse er Einsicht in die Verträge haben. „Aber meine persönliche Einschätzung ist, dass man hier nicht den klassischen Arbeiterstrich vorfindet, sondern eher einen festen Treffpunkt.“
Die Beratungsstelle ist darauf angewiesen, dass Arbeiter sich bei ihr melden, selbst die Initiative ergreifen. Zwar informiert „Faire Mobilität“ auch oft proaktiv Arbeitnehmer. „Aber wir unternehmen nichts gegen den Willen der Leute.“ Hin und wieder rufe auch jemand aus Wiesbaden an. Aber noch habe sich niemand gemeldet und explizit einen Arbeiterstrich in der Wellritzstraße genannt.
Dieser Beitrag stammt aus unserer Stadtteilzeitung Mensch!Westend. Mehr aus dem Westend ist unter www.mensch-westend zu finden.