NSU: „Polizeiliche Ermittlungen waren katastrophal“ -...

Abdulkerim Simsek war 13 Jahre alt, als sein Vater Enver im September 2000 aus seinem Leben gerissen wurde. Die Neonazis des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU)...

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WIESBADEN. Abdulkerim Simsek war 13 Jahre alt, als sein Vater Enver im September 2000 aus seinem Leben gerissen wurde. Die Neonazis des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) feuerten acht Schüsse auf den türkischstämmigen Blumenhändler aus Hessen an seinem mobilen Stand in Nürnberg ab. Zwei Tage später erlag Enver Simsek seinen Wunden. „Auf einmal war die Säule unserer Familie weg. Wir durften, konnten dann keine normalen Kinder mehr sein“, erzählt Abdulkerim Simsek bei der Eröffnung der Wanderausstellung „Opfer der NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ im Aktiven Museum Spiegelgasse (AMS).

Zehn Morde zwischen den Jahren 2000 und 2007

Simseks bewegende Schilderungen an diesem Abend lassen erahnen, wie massiv die insgesamt zehn NSU-Morde zwischen 2000 und 2007 die Angehörigen der Todesopfer traumatisierte. „Mein Ziel ist es, ihre Perspektive, die Opferperspektive in den Mittelpunkt zu rücken“, sagt die Schöpferin der Ausstellung, Rechtsextremismus-Expertin Birgit Mair aus Nürnberg. Zu sehr habe man sich auf die Täter konzentriert.

Auf 22 bebilderten Tafeln sind im ersten Teil die Biografien der Ermordeten dargestellt. Im zweiten Teil werden die Neonaziszene der 1990er Jahre sowie die Hilfeleistungen an den NSU-Kern aus einem neonazistischen Netzwerk beleuchtet. Auch werden die Gründe, warum die Mordserie nicht aufgedeckt wurde, thematisiert.

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Seit fast viereinhalb Jahren dauert der NSU-Prozess in München an, demnächst sollen endlich die Plädoyers der Nebenkläger-Anwälte beginnen. „Ich kann es nicht ertragen, Beate Zschäpe im Gerichtssaal zu sehen“, sagt Simsek. Sie sei kalt und emotionslos, andere aus dem Netzwerk grinsten die Angehörigen sogar an. „Uns geht es nicht um finanzielle Entschädigung, sondern um Gerechtigkeit, um Aufklärung“, erklärt er. „So wie es uns Angela Merkel versprochen hat.“

Die polizeilichen Ermittlungen nach dem Mord an Enver Simsek – dem ersten NSU-Opfer – bezeichnet der 30-Jährige als „katastrophal“ und sehr belastend für die ohnehin trauernde Familie. Rassismus und Vorurteile prägten die polizeiliche Ermittlung, heißt es auch auf einer der Tafeln.

Lange Zeit suchten die Beamten im sozialen Umfeld der Opfer nach den Tätern. „Sie sagten, mein Vater, der keiner Fliege was zu Leide tun konnte, sei kriminell, habe mit Drogen gedealt.“ Um die Mutter aus der Reserve zu locken, hat die Polizei sogar eine Geliebte erfunden, mit der Enver Simsek Kinder gehabt haben soll. „Das war eine grässliche Zeit.“ Nach dem Auffliegen des NSU-Trios sei der Familie ein Stein vom Herzen gefallen. „Denn endlich war ich nicht mehr der Sohn eines Drogendealers.“ Elf Jahre nach dem Mord an seinem Vater.

„Es ist so wichtig, dass Sie das so eindrücklich beschreiben”, sagt Georg Habs, Sprecher der AMS-Ausstellungsgruppe. „Wir müssen jede Möglichkeit nutzen, Öffentlichkeit herzustellen.“ Auch Hendrik Hartemann von der Jugendinitiative „Spiegelbild“ betont die Verantwortung der Gesellschaft: „Mit dieser Ausstellung zeigen wir das Leid der Betroffenen, üben Solidarität und weisen auf strukturellen und institutionellen Rassismus hin.“ Für Schulklassen werde „Spiegelbild“ ein zusätzliches Angebot schaffen.

„Man muss schon in der Kita beginnen, Vielfalt zu fördern, damit so was nicht noch mal passiert“, sieht Abdulkerim Simsek den Staat gefordert. Auch wenn es einen Rechtsruck gebe, er sich jahrelang „als Mensch zweiter Klasse“ empfunden habe, fühlt er sich heimisch in Deutschland. „Ich kämpfe für mein Land. Deshalb bin ich hier.“