Der britische Historiker Ian Kershaw prägte den Begriff „Dem Führer entgegen arbeiten“ für den ausgeprägten vorauseilenden Gehorsam vieler Gefolgsleute und Karrieristen...
WIESBADEN. Der britische Historiker Ian Kershaw prägte den Begriff „Dem Führer entgegen arbeiten“ für den ausgeprägten vorauseilenden Gehorsam vieler Gefolgsleute und Karrieristen im Nationalsozialismus. Dass sich diese Eigenschaft durchaus in ein lohnendes Geschäftsmodell kleiden lässt, das im Namen der Forschung zu den abscheulichsten Verbrechen an KZ-Gefangenen führte, zeigt das Beispiel des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung. Die „eigene Produktionsstätte mit guter Gewinnaussicht“, aufgebaut vom gelernten Verlagskaufmann und späteren Wissenschaftsmanager Wolfram Sievers, ist Forschungsgegenstand des Historikers Julien Reitzenstein. Vor vollem Haus berichtete Reitzenstein jetzt im Wiesbadener Hauptstaatsarchiv im Rahmen der Studien-Reihe zum Nationalsozialismus über „Himmlers Forscher – Wehrwissenschaften und Medizinverbrechen im ‚Ahnenerbe‘ der SS“.
Reitzenstein präsentiert seine Recherchen und Quellen faktisch, die menschlichen Schicksale der Opfer scheinen dennoch durch. So etwa, als der Düsseldorfer Historiker davon berichtet, wie der sich zeitlebens der „Mongolenforschung“ verschriebene Anthropologe Bruno Beger, der stets mit Unterstützung des Anatomen August Hirt agierte und geschickt die Nazi-Ideologie von der überlegenen nordischen Rasse zur Erlangung von Fördergeldern nutzte, methodisch vorging. Begers Motiv: Er wollte den Nachweis einer indo-germanischen Wanderungsbewegung von Tibet nach Norwegen erbringen, indem er dafür Schädel vermaß. An zuerst lebenden, dann toten Probanden.
Mangels erhoffter Studienobjekte im KZ Auschwitz, als Beger im Rahmen seines rassenanthropologischen Forschungsprojekts nach kriegsgefangenen „jüdisch-bolschewistischen Kommissaren“ aus dem Kaukasus Ausschau hielt und nur vier fand, suchte er zusätzlich 109 „asiatisch aussehende“ Juden aus. Im KZ Natzweiler-Struthof wurde ein Kühlraum zur Gaskammer, 86 Menschen starben. Beger pfuschte bei der Konservierung seiner Forschungsobjekte, die Leichen wurden „wertlos“. Spätestens jetzt graust es die Zuhörer. Ein „monströses Verbrechen“, nennt es Reitzenstein.
Erneutes Kopfschütteln im Publikum, als Reitzenstein berichtet, dass Beger, übrigens letzter Fall des Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer, lediglich zur Beihilfe zum Mord verurteilt wurde und 86-jährig nach bürgerlichem Leben starb. Ihm konnte nicht nachgewiesen werden, dass er wusste, dass die von ihm in Auschwitz ausgesuchten Menschen ermordet werden sollten. Die neuen Erkenntnisse Reitzensteins und seine intensive Quellenforschung, die 2018 in einer Buchveröffentlichung mündeten, ermöglichen nun eine Neubewertung des der so genannten „Straßburger Schädelsammlung“ zugrunde liegenden Verbrechens. Reitzenstein auf seiner Homepage zu seinen Forschungsmotiven: „Mir ist es wichtig, die stete Entrechtlichung der Juden und anderer Minderheiten fühlbar, spürbar zu machen, den Opfern eine Stimme zu geben.“