Der Wiesbadener Sinti Ricardo Laubinger schildert in einem...

Das Mahnmal für die aus Wiesbaden verschleppten und in Konzentrationslagern getöteten Sinti steht an der Bahnhofstraße. Es wurde im Jahr 1993 nach heftigen Kontroversen eingeweiht. Zahlreiche Wiesbadener, an ihrer Spitze Oberbürgermeister Achim Exner, schritten damals denselben Weg durch die Bahnhofstraße ab, den auch die Sinti und Roma bei der Deportation gehen mussten.Archivfoto: Friedrich Windolf  Foto:

26 000 Sinti und Roma lebten zu Beginn der NS-Zeit in Deutschland, in Wiesbaden waren es etwas mehr als 200. Kaum einer von ihnen überlebte die Nazi-Herrschaft. Insgesamt...

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WIESBADEN. 26 000 Sinti und Roma lebten zu Beginn der NS-Zeit in Deutschland, in Wiesbaden waren es etwas mehr als 200. Kaum einer von ihnen überlebte die Nazi-Herrschaft. Insgesamt fielen in Europa rund 500 000 Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer.

Das Mahnmal für die aus Wiesbaden verschleppten und in Konzentrationslagern getöteten Sinti steht an der Bahnhofstraße. Es wurde im Jahr 1993 nach heftigen Kontroversen eingeweiht. Zahlreiche Wiesbadener, an ihrer Spitze Oberbürgermeister Achim Exner, schritten damals denselben Weg durch die Bahnhofstraße ab, den auch die Sinti und Roma bei der Deportation gehen mussten.Archivfoto: Friedrich Windolf  Foto:
Rund 250 Sinti lebten vor dem Krieg in Wiesbaden. Das Foto zeigt in der Mitte mit dem Akkordeon Ricardo Laubingers Vater Karl. Er und seine beiden Brüder arbeiteten in einem Steinbruch bei Wiesbaden und spielten in einer Pause für die Kollegen. Foto:Laubinger  Foto:
Ricardo Laubinger. Wie viele Sinti spielt auch er ein Instrument, die Geige. Er lebt in Wiesbaden.Foto: Laubinger  Foto: Laubinger

Heute leben rund 60 Sinti und Roma in Wiesbaden, einer von ihnen ist Ricardo Laubinger. Seine Mutter Bertha (Sichla) Laubinger, genannt Gerda, geborene Weiß, hatte 59 Monate in der Hölle der Konzentrationslager, darunter Auschwitz-Birkenau, überlebt. Ihre Eltern, die Großeltern und sechs Geschwister wurden getötet.

Berthas Geschichte hat Ricardo Laubinger nun aufgeschrieben. „Und eisig weht der kalte Wind“ hat er sein Buch genannt. „Es soll keine Anklage sein“, sagt er. Es gehe ihm vielmehr um einen „Beitrag zur Versöhnung“ und „vor allem um einen Akt gegen das Vergessen“.

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Zumindest Letzteres ist ihm mit seinem bedrückenden wie eindringlichen Buch gelungen. Eine Anklage indes bleibt es gleichwohl. Gegen die Täter von damals einerseits, natürlich. Doch er nennt auch die Schreibtischtäter. Etwa ein Dr. Gerhard Stein, der sich speziell mit „Zigeunerforschung“ beschäftigt hatte und der laut Laubinger dafür verantwortlich war, dass viele Sinti und Roma aus Wiesbaden und Mainz ins KZ kamen. Nach dem Krieg soll er in Wiesbaden als Arzt praktiziert haben. Aber das Buch ist auch eine Anklage dagegen, wie mit den Sinti und Roma, speziell natürlich seiner Mutter, nach dem Krieg umgegangen wurde.

Es ist der 16. Mai 1940, etwa gegen 3.30 Uhr in der Nacht, als das Leben der damals 14 Jahre alten Bertha zu einer „Reise in die Hölle“ wird, wie Laubinger es nennt. Polizei, Gestapo und Hilfspolizisten mit Schusswaffen, Schlagstöcken und Hunden treiben die Familie und andere „Zigeuner“ zusammen. Sie werden in Viehwaggons in ein KZ in Polen gebracht. Bertha muss mit ansehen, wie ihr Opa erschossen wird. Schließlich wird sie vom Rest der Familie getrennt, Bertha kommt nach Birkenau.

Es ist ein Abschied für immer. „Nach dem Krieg erfuhr unsere Mutter dann von anderen überlebenden Sinti, dass irgendwann ein Lkw kam, auf dessen Ladefläche betrunkene Soldaten waren, die einfach in die Menge schossen“, berichtet Laubinger. Auch ihre Mutter wurde getroffen. Die Geschwister seien kurz darauf getötet worden. „Es gab in den Lagern so viele Mörder...“, schreibt Laubinger.

Nur das Schicksal von Berthas Schwester Lieselotte blieb im Dunkeln, die Behörden in Hamburg erklärten sie 1957 als „im KZ verstorben“. Doch in Wahrheit hatte sie überlebt, sie war sogar in der Hansestadt angemeldet. Laubinger ist heute noch verbittert: Er unterstellt den Behörden Absicht, gar „kriminelle Energie“, nicht sorgfältig genug gesucht zu haben. Für Bertha kam die Nachricht zu spät, Lieselotte war bereits an den Spätfolgen der KZ-Haft gestorben, als sie von ihrem Überleben erfuhr.

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Zwangssterilisation von Frauen

In Wiesbaden lebten Teile der Familie von Ricardo Laubingers Vater Karl-Ludwig (Waddel). Unter anderem auch ein älterer Bruder. Er war der Deportation entkommen, weil er vor dem Krieg ein hochdekorierter Ausbilder im Rag eines Oberfeldwebels in der Gersdorff-Kaserne, dem späteren Camp Lindsay, war. Doch er selbst, die Ehefrau und die vier Töchter seien stattdessen zwangssterilisiert worden.

1940 bereits hatte die Wiesbadener Kriminalpolizei eine „Zigeunerliste“ erstellt, anhand derer am 8. März 1943 schließlich mehr als 100 Sinti und Roma verhaftet und in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde dort ermordet. Ein Mahnmal an der Bahnhofstraße erinnert daran.

Bertha kam mit ihrem Ehemann kurz nach der Befreiung nach Wiesbaden. 1947 bekamen sie ihr erstes Kind, ein Mädchen. Doch in Wiesbaden, so schreibt Laubinger nun, „ging der Kampf weiter“. Alle Sinti mussten zur Kriminalpolizei, wurden erkennungsdienstlich behandelt und registriert. Ein Polizeifoto im Buch zeigt auch Laubingers Mutter, aufgenommen vom Erkennungsdienst, sie trägt wieder eine Nummer, 49/1766.

Bertha Laubingers Grab ist heute auf dem Südfriedhof. Sie starb 2009, 33 Jahre nach ihrem Mann. Ihre Grabstätte war eine von knapp 20 Gräbern verstorbener Sinti, denen vor einigen Jahren die Abräumung drohte. Die Nutzungsdauer war abgelaufen. Doch nur Sinti und Roma, die bis zum 31. März 1952 gestorben waren, gelten offiziell als Nazi-Opfer, denen Ehrengräber zustehen.

Ricardo Laubinger beschreibt in seinem Buch, belegt unter anderem mit Berichten darüber in dieser Zeitung, seinen mühseligen Kampf für einen Erhalt auch jüngerer Gräber. 2014 schließlich hatte er Erfolg, Oberbürgermeister Sven Gerich ordnete nach einem persönlichen Gespräch mit Laubinger an, dass die betroffenen Sinti-Gräber auf Wiesbadener Friedhöfen nicht mehr abgeräumt würden. Darunter ist auch das Grab von Bertha (Sichla) Laubinger, genannt Gerda.

Von Manfred Knispel