Der Wiesbadener Künstler Oliver Schultz arbeitet mit...

Zarte Blumen, mit dem Bleistift gezeichnet: Dieses Bild zeigt die Hände von Helga Müller beim Malen.Foto: Oliver Schultz  Foto: Oliver Schultz
© Foto: Oliver Schultz

Demenz – für viele Menschen ist dieses Wort mit Furcht verbunden. Die Vorstellung, im Alter die geistigen Fähigkeiten, das Gedächtnis und die Sprache zu verlieren, macht...

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WIESBADEN. Demenz – für viele Menschen ist dieses Wort mit Furcht verbunden. Die Vorstellung, im Alter die geistigen Fähigkeiten, das Gedächtnis und die Sprache zu verlieren, macht Angst. „Trotzdem ist es eine lebendige Lebensphase für Betroffene“, betont der Wiesbadener Bildende Künstler Oliver Schultz, der seit 16 Jahren Malgruppen für demenzkranke Menschen in Altenheimen anbietet. In seinem Buch „Blickwechsel“ zeigt er rund 150 Bilder, die im Rahmen seiner Arbeit in Wiesbaden entstanden sind und sagt: „Auch wenn die Diagnose entmutigt – in der Kunst sind diese Menschen noch immer ausdrucksfähig. Durch ihre Bilder kommen sie selbst zur Sprache.“

Zarte Blumen, mit dem Bleistift gezeichnet: Dieses Bild zeigt die Hände von Helga Müller beim Malen.Foto: Oliver Schultz  Foto: Oliver Schultz
Der Wiesbadener Künstler Oliver Schultz.Foto: Alexander Paul Englert   Foto: Alexander Paul Englert
„Will ich, kann ich, soll ich“ von Anna Meyer.Foto: Alexander Paul Englert  Foto: Alexander Paul Englert
„Lorelei“ von Gerda Turczyk.Foto: Alexander Paul Englert  Foto: Alexander Paul Englert

Ein kleiner dunkler Punkt kann es sein, der eine Betroffene wie Anna Maria Aberle inspiriert. Ihr Bild „Tripelpunkt“ ist das erste Bild in dem Buch. „Was willst du denn da? Du bist so alleine“, habe die Malerin zu dem kleinen Punkt auf dem Papier gesagt, erinnert sich Schultz. Sie habe einen zweiten, dann einen dritten Punkt dazu gemalt. „Damit er nicht mehr alleine ist.“

Auch neben der fröhlichen Zeichnung von Gertrude Lucas, die eine grüne Heufigur zur Erntezeit zeigt, steht der Satz: „Warum bist du alleine.“ Einsamkeit sei ein Thema, das viele Demenzkranke beschäftige, sagt Schultz. „Wegen ihres Lebens im Altenheim, aber auch, weil sie aufgrund ihrer Demenz oft nicht mehr verstanden werden.“

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In den Malgruppen erleben sie Gemeinschaft und manche Bewohner malen zum ersten Mal in ihrem Leben, wie der Autor erzählt. Sein Buch zeigt bunte, abstrakte Bilder, aber auch feingliedrige Zeichnungen. Wie etwa die kleinen Blumen, die Helga Müller mit Bleistift an den Rand ihres Bildes gezeichnet hat – zarte Pflänzchen, mit unruhiger Hand gemalt.

Auch der filigrane Vogel und der zarte Schmetterling von Anna Meyer zeigen diese Zerbrechlichkeit. Im Alter verliere der Mensch oft die Kraft in den Händen, erklärt Schultz. „Wenn der Stift oder der Pinsel zittern, dann erzeugt das eine ganz besondere Zeichenspur auf dem Papier. Sie ist etwas unsicher, lässt aber auch Raum für Neues.“

Unter seinen Teilnehmern hat Schultz mit der Zeit einige Talente entdeckt. Wie Gerda Turczyk, deren „Lorelei“ ebenfalls in dem Buch abgebildet ist. „Ich weiß nicht, was soll das bedeuten“ – diese Anfangsworte des berühmten Loreley-Gedichtes von Heinrich Heine, habe die Dame während des Malens im Kopf gehabt. „Und eine schöpferische Kraft entwickelt, die fasziniert.“

Das sei das Besondere an der Arbeit mit Demenzkranken, so Schultz. „Sie sind nicht mehr festgelegt, was ein Verlust sein kann. Für die Kunst bedeutet es aber Beweglichkeit. Nicht zu wissen, was es bedeutet, was man da zeichnet. Es aber als Ansporn und nicht als Verunsicherung zu nehmen.“

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Die Arbeit mit den Demenzkranken sei für ihn unglaublich faszinierend und berührend, sagt Schultz. Er müsse die Heimbewohner oft erst für das Malen gewinnen. „Ich frage sie zum Beispiel, welche Farbe ihnen am besten gefällt und wo auf dem Papier sie sie gerne sehen würden. Mit der ersten Berührung zwischen Farbe und Blatt ist dann oft der Bann gebrochen und sie bekommen Lust weiterzumalen.“

Seine Erfahrungen mit Menschen mit Demenz nutzt Schultz seit einigen Jahren auch für die Forschung. Ihn interessiert, wie sich Demenz in künstlerischer Arbeit zeigt. „Das ist ein recht neuer Ansatz.“ Er ist sich sicher: Die Kunst ermöglicht Betroffenen Kontakt und Kommunikation. Und davon profitieren auch die Angehörigen. „Auch wenn ein Gespräch nicht mehr möglich ist, sehen sie, dass die Persönlichkeit lebendig ist.“