Sie nimmt roten und grünen Filz und näht Buchstaben in Gelb oder Lila darauf. Daraus setzt sie ihre Botschaften zusammen: „Ich bin Jüdin“ oder „Unser Name ist...
WIESBADEN. Sie nimmt roten und grünen Filz und näht Buchstaben in Gelb oder Lila darauf. Daraus setzt sie ihre Botschaften zusammen: „Ich bin Jüdin“ oder „Unser Name ist Dreyfus“. Mit diesen Sätzen dekoriert die international renommierte Aktions- und Foto-Künstlerin Ella Dreyfus Hauswände oder Garagentore. Die Australierin hat das auch in Wiesbaden gemacht und jede Aktion dokumentiert. Ihre großformatigen Fotos hängen im Aktiven Museum Spiegelgasse. Dort wurde am Samstag die Ausstellung „Walking in Wiesbaden“ eröffnet.
In 58 Tagen 200 Kilometer gelaufen
Georg Habs, Sprecher der Ausstellungsgruppe des Museums, verwies auf die Gegenwartsform der Dreyfus’schen Botschaften. Habs: „Dem grausamen antisemitischen Vernichtungswillen der Nazis, der auch in Wiesbaden wütete, stellt Ella entgegen: Hier war jüdisches Leben. Mehr noch: Hier ist jüdisches Leben.“
Alles fing damit an, dass Ella als Kind in Sydney von ihrem Vater die Namen deutscher Städte hörte. Wiesbaden, Wuppertal-Elberfeld. Was sie später erfuhr: Ihr Vater war 1939 mit seinem Bruder von einer Wohlfahrtsorganisation bei einem Kindertransport nach Australien gebracht worden. „Hitlers Kinder“ hießen die, die meist weder Familie noch Heimatland wiedersahen.
Das Bett der Urgroßeltern auf dem Dachboden
Wenn Ella Dreyfus in Paris nicht von einer Künstlerin erfahren hätte, dass der Wiesbadener Kunstverein Bellevue-Saal Stipendien vergibt, wäre sie nie in die Heimat des Vaters gereist. Ella Dreyfus bot dem Vorsitzenden des Kunstvereins, Ulrich Meyer-Husmann, an, ihrer Familiengeschichte nachzugehen und daraus ein Kunstwerk zu machen.
So entstand „Walking in Wiesbaden“ als Kooperationsprojekt mit dem Aktiven jüdischen Museum. Für Habs ein „wunderbares Kontrastprogramm zu den völkischen Hassbotschaften. Der Museumssprecher stellte fest: „Ellas Interventionen sind ebenso provokant wie behutsam.“ Sie nimmt Orte nur vorübergehend in Beschlag und gibt sie rasch wieder frei.
Ella kam am 29. Dezember in Wiesbaden an. „Ich bin in den 58 Tagen 200 Kilometer gegangen, habe über 10 000 Fotos gemacht, zu viel Brot gegessen – aber nur ein Stück Käsekuchen.“ Sie sagt, sie habe viele Freunde gefunden – etwas, was sie sich nicht hatte vorstellen können.
Im oberen Stockwerk des jüdischen Museums ist ein „Erinnerungsraum“ mit einem auseinandergenommen Bett dekoriert. Nachdem Ella Dreyfus an der Gedenkmauer am Michelsberg die Namen Ida und Albert David Ransenberg entdeckte, die Namen der Urgroßeltern, die in Auschwitz und Theresienstadt umkamen, wollte sie den Stolperstein vor dem Haus Richard-Wagner-Straße 30 sehen. Dort hatten die Ransenbergs gewohnt.
Es geschah etwas Unglaubliches: Auf dem Dachboden entdeckte die Künstlerin das Bett der Urgroßeltern, die in Elberfeld wohnten, bevor sie als Pensionäre nach Wiesbaden zogen. Auf dem Lattenrost stand die Versandadresse: „Von Berlin Lehrter Bahnhof nach Elberfeld. 31.10.21“. Für Ella Dreyfus, die das Bett zum Teil ihres Kunstprojekts machte, nicht nur ein „wunderbares historisches Artefakt“. Sondern auch Beweis dafür, „dass die Vergangenheit ergreifen und im Heute berühren kann“.