WIESBADEN - Sean ist ein Straftäter. Der 29-Jährige hat im März und im August 2016 in Biebrich und Nordenstadt mehrere Menschen auf der Straße angegriffen. Wahllos. Grundlos. Er hat sie mit der Faust oder flachen Hand geschlagen, er hat sie getreten, angespuckt. Er hat sie verletzt und ihnen Angst eingejagt. Manche Opfer hatten Monate lang körperliche Schmerzen. Wie der Rentner, dem er auf der Stolberger Straße mit einem Tritt gegen den Brustkorb mehrere Rippen gebrochen hatte. Bei allen Opfern hat Seans Gewalt auch das Sicherheitsgefühl ramponiert. Durch Aggressionen und Gewalt war er schon früher aufgefallen. Im März 2013 wurde er in München unter anderem wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt. Zu einem Jahr und sechs Monaten. Sean galt damals als schuldfähig.
Jetzt, in Wiesbaden, ist Sean ein Täter, der nicht bestraft werden kann. Er gilt, weil psychisch krank, als schuldunfähig. Die Diagnose lautet „Schizophrenie“. Wie geht der Staat mit Kranken wie ihm um, wenn sie Gewalttäter werden? Wenn sie die Grenzen dessen überschreiten, was eine Gesellschaft als Risiko durch psychisch Kranke auszuhalten hat.
Auch wenn er schuldunfähig ist, vor Gericht steht der Wiesbadener gleichwohl. Die 2. Strafkammer des Landgerichts muss in einem Sicherungsverfahren entscheiden, ob er in den Maßregelvollzug kommt. In ein gesichertes psychiatrisches Krankenhaus, auf der Grundlage von § 63 Strafgesetzbuch. Eine Sonderform des Entzugs der persönlichen Freiheit.
DIE EINRICHTUNGEN
In Hessen werden zur Durchführung des Maßregelvollzugs für psychisch kranke Rechtsbrecher nach § 63 Strafgesetzbuch folgende Einrichtungen, Belegungsstand 1/2017 betrieben:
Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Haina einschließlich Außenstellen Gießen:
anerkannte Plätze: 364
tatsächliche Belegung: 359
Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Eltville:
anerkannte Plätze: 57
tatsächliche Belegung: 54
Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Riedstadt
anerkannte Plätze: 92
tatsächliche Belegung: 89
Die Fachaufsicht liegt beim Hessischen Ministerium für Soziales und Integration. 2015 betrug die durchschnittliche Dauer der Unterbringung rund sechs Jahre und drei Monate (2270 Tage). Als Bundesdurchschnitt findet sich die Angabe acht Jahre.
In den vergangenen Jahren ist bundesweit ein kontinuierlicher Anstieg der Unterbringungen zu verzeichnen, zudem ein deutlicher Anstieg der durchschnittlichen Unterbringungsdauer, „ohne dass es konkrete Belege für einen parallelen Anstieg der Gefährlichkeit der Untergebrachten gibt“. Das und die öffentliche Diskussion um Einzelfälle waren Anlass zu prüfen, inwieweit das Recht der Unterbringung einer stärkeren Ausrichtung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedarf. (Novellierung des Rechts der Unterbringung gemäß § 63, vom Januar 2016).
Psychisch krank ist nicht gleich gefährlich. Die Gefährlichkeit tritt zwar vielfach in einem kausalen Zusammenhang mit der Krankheit auf, ist mit der Krankheit aber nicht identisch. Nicht jeder Schizophrene ist per se gefährlich. Es gilt aber aufgrund von Untersuchungen als wissenschaftlich gestützt, „dass das Risiko für Kriminalität generell und für Gewalttaten im Besonderen durch eine Erkrankung an Schizophrenie erheblich steigt“, heißt es im Handbuch der forensischen Psychiatrie. Nichts sei „gestützt“, behaupten Kritiker des Maßregelvollzugs.
Es geht vor dem Landgericht aber nicht um Aussagen im Allgemeinen, es geht im konkreten Einzelfall darum, was es mit Sean auf sich hat. Ein Mann, der Depotspritzen und die Behandlung mit Neuroleptika ablehnt. Die Nebenwirkungen seien zu schlimm, lässt er über seine Mutter schildern. Sie ist seine gesetzliche Betreuerin. Sie scheint bei aller verständlichen Fürsorge für ihr Kind auch ein Teil des Problems zu sein. Sie reklamiert für sich einen fachlichen Sachverstand, den sie als jedem anderen Sachverstand als überlegen betrachtet. Sie habe nachgelesen, was „Schizophrenie“ ist. „Was da unter Schizophrenie stand, das habe ich bei meinem Sohn nicht gesehen“, sagt sie. Ihr Sohn brauche eine psychologische Therapie, das sei völlig ausreichend.
Fachliche Aufschlüsse erwarten die Juristen im Fall Sean von dem forensisch-psychiatrischen Sachverständigen Rüdiger Müller-Isberner. Er soll die Persönlichkeit und das Krankheitsbild, die Vorgeschichten und die Auffälligkeiten aufarbeiten. Wie belegt ist die Diagnose Schizophrenie? Welches Risiko könnte eintreten? Welche Delikte? Unter welchen Umständen? Mit welchem Grad der Wahrscheinlichkeit?
Bis Frühjahr 2017 war Müller-Isberner knapp 30 Jahre lang Direktor der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Haina. Dort ist Sean vorläufig untergebracht. „In einem Psychiatrielager“, prangern jene an, die sich als Unterstützer und Prozessbeobachter des Wiesbadeners vor Gericht eingefunden haben. In ihrer Deutung spielt sich vor der 2. Strafkammer ein weiterer Skandal ab. Ein Fall von Menschenrechtsverletzung und von Scharlatanerie. Verkörpert in der Person Müller-Isberner. Sein Gutachten werde nicht einmal den Mindestanforderungen gerecht, es sei „fachwissenschaftlich nicht haltbar“, es münde in einer konstruierten Gefährlichkeit, behauptet Seans Rechtsanwalt Tronje Döhmer. Sein Mandant sei nur ein weiteres Opfer, das in einer „Zwangsanstalt“ festgehalten werde. Von einer angeblich „falschen Diagnose“ und „Täuschungen“ ist die Rede, mit Sean und anderen Leidensgenossen solle nur die Klinik ausgelastet werden, um Geld zu verdienen. Müller-Isberner sagt, dass es Zeiten gegeben habe, in denen Sean in der Klinik zugänglich und auch gesprächsbereit gewesen sei. „Bevor Außeneinflüsse gekommen sind, die Mutter zum Beispiel, war er gesprächsbereit.“ So lange Müller-Isberner im Gerichtssaal sitze, werde Sean kein Wort sagen, hat Anwalt Döhmer angekündigt.
Auch das hat Nebenwirkungen. Wie soll sich das Gericht ein umfassendes Bild über den Mann machen, für den so viel auf dem Spiel steht? Bedenken das diejenigen, die auf Seans Rücken vor dem Landgericht ihre grundsätzliche Systemkritik am Maßregelvollzug austragen? Einerseits prangern sie seine Degradierung zum Objekt einer Unterbringung an, andererseits instrumentalisieren sie ihn bei ihrer grundsätzlichen Kritik am System Maßregelvollzug. Diese unbefristete Form des Freiheitsentzugs muss in einem Rechtsstaat kritisch begleitet werden: Was ist verhätnismäßig? Die Unterstützer nähren bei Sean Hoffnungen. Wie erklären sie ihm, wenn er am Ende der Verhandlungstage vom Gericht unbefristet untergebracht würde?