Die Behindertenwerkstatt hat geschlossen, es gibt kaum Kontakte, die gesellschaftliche Distanz ist noch größer als sonst. „Wir sind schon sehr unter uns“, sagen Betroffene.
WIESBADEN - „Die wenigen Freunde, die ich habe, kann ich jetzt nicht mehr sehen“, sagt Tim*. Er ist 21 Jahre alt und hat eine geistige Beeinträchtigung mit Autismus-Spektrum-Störung.
Tim wohnt in einer Wohnung in Wiesbaden und wird von der Lebenshilfe Wiesbaden betreut. Das Coronavirus hat seinen Alltag gehörig durcheinandergebracht. Die Werkstatt für Behinderte, in der er arbeitet, ist coronabedingt geschlossen. Hobbys fallen aus. „Es belastet meinen Alltag, und ich bin froh, dass ich wenigstens meine Familie ab und zu sehen kann“, erzählt er.
Die Gefühle von Isolation und Abschottung, die das Kontaktverbot bei vielen erzeugt, sind Tim nicht fremd. Das hat allerdings weniger mit der Corona-Pandemie zu tun. „Ich fühle mich oft allein. Viele Menschen haben überhaupt keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung. Da sind wir so schon sehr unter uns“, sagt er. Bei vielen Bewohnern mache das Coronavirus keinen großen Unterschied in ihrer Situation, sagt die Sprecherin der Lebenshilfe, Christiane Jungkenn. „Ob mit oder ohne Virus, die gesellschaftliche Distanz besteht sowieso und wird durch das Virus verstärkt.“
Auch in der öffentlichen Diskussion fühlen sich die Mitarbeiter der Lebenshilfe und ihre Bewohner vergessen. „Wir waren überhaupt nicht im Fokus. Das ist ein Abbild der Gesellschaft“, sagt Jungkenn.
Immerhin die persönliche Betreuung von der Lebenshilfe bleibt Tim erhalten. Das ist aber auch nicht in allen Fällen zu gewährleisten. Der Leiter des betreuten Wohnens, Marcus Ahr-Schmuck, erklärt, warum: „Ich entscheide individuell, wen ich persönlich und wen ich telefonisch betreue, weil einige doch noch viel unterwegs sind.“
Für Schmuck sei es ein generelles Abwägen in der Krise für das betreute Wohnen und die drei Wohnheime der Wiesbadener Lebenshilfe „Es ist für uns als Betreuer ein schmaler Grat. Wie nehme ich die Sache ernst, ohne dass ich Panik verbreite.“
In den Wohngemeinschaften dürfen die Bewohner weiterhin Besuch im Garten haben. Dabei muss der Abstand von zwei Metern eingehalten werden – eine Herausforderung für viele. „Die Menschen haben eine starke haptische Wahrnehmung und sind sehr sensitiv“, erklärt Jungkenn. Außerdem könne man bei einigen nicht über die Verstandesebene argumentieren. „Viele denken, der Abstand richtet sich gegen sie persönlich“, erklärt Jungkenn.
Menschen mit Behinderungen zählen zur Risikogruppe. In Wohnheimen in Koblenz und Köln sind bereits infizierte Personen gestorben. In den Wiesbadener Wohnheimen gebe es bis jetzt keinen erkannten Corona-Fall, sagt Schmuck.
Kranke könnten isoliert werden
Doch was passiert, wenn es dazu kommt? „Sollte es tatsächlich zu einer Erkrankung kommen, haben wir Schutzausrüstung und die Möglichkeit, die erkrankte Person zu isolieren“, erklärt Ragnar Boekels, ein Betreuer im Wohnhaus Schierstein der Lebenshilfe Wiesbaden. Die Wohnheime, in denen jeweils etwa 30 bis 34 Personen leben, dürfen nach wie vor nicht besucht werden. Die gesellschaftliche Isolation ist unter diesem Aspekt ein Vorteil. „Einzige Gefahr ist, dass die pädagogischen Betreuer das Virus ins Wohnheim bringen“, sagt Jungkenn.
Trotz allem kann Tim der Pandemie etwas Gutes abgewinnen. „Autisten, die sowieso Abstand brauchen, werden jetzt nicht mehr schräg angeschaut“, sagt er und muss grinsen.
* Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt.