Urteil im Wiesbadener Kiosk-Mord: Lebenslange Freiheitsstrafe für Benjamin G.
Das Urteil im Prozess um den Kiosk-Mord in Wiesbaden-Biebrich ist gefallen.
Von Wolfgang Degen
Mitarbeiter Lokalredaktion Wiesbaden
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WIESBADEN - Als am Morgen des 20. Dezember 2016 um 8.40 Uhr die Türglocke des kleinen Biebricher Geschäfts bimmelt, steht ein Mörder im Kiosk. Er sagt kurz „Hallo“, dann geht er zwei, drei Schritte auf die Geschäftsfrau Manuela Wagner zu und schießt ihr aus maximal 50 Zentimetern Distanz ins Gesicht. Die Frau hat nicht den geringsten Hauch einer Chance, auf den Angriff zu reagieren.
Das gilt auch für ihren Neffen Marc, der Profifußballer von Dynamo Dresden ist an diesem Morgen zufällig im Geschäft. Er wird Opfer eines Mordversuchs, mit einem Schuss im Hals gelingt ihm in Todesangst die Flucht durch einen Hinterausgang. Das dritte Opfer des Schützen wird Manuelas Ehemann, er wird von einem Schuss in der Schulter getroffen. Das Gericht bewertet das als gefährliche Körperverletzung.
Nur 16 Sekunden im Kiosk
Bodo Wagner hatte unter dem Verkaufstresen mit Marcs kleinem Hund gespielt und den Anfang des Verbrechens zunächst gar nicht registriert. Das Verbrechen war eine Sekundensache. Später zeigte die Auswertung einer Videoüberwachung, dass der Täter alles in allem nur 16 Sekunden im Kiosk gewesen war. Die Folgen für die Opfer und ihre Angehörigen bleiben für die Ewigkeit.
Rund acht Monate nach dem Verbrechen hat die Schwurgerichtskammer den 26 Jahre alten Benjamin G. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Foto: wita/Paul Müller
Rund acht Monate nach dem Verbrechen hat die Schwurgerichtskammer am Montag den 26 Jahre alten Benjamin G. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Mord, ein Mordversuch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, dazu eine weitere gefährliche Körperverletzung, so die juristische Bewertung der Richter. Geschossen hat ein Waffennarr, der sich bei seinen wortkargen Sätzen gegenüber der Polizei und später im Prozess hinter einer Vielzahl von Schutzbehauptungen verbarrikadiert hatte.
Wie im „Nebel“ erscheine ihm die Tat, er will sich „hinter mir und über mir stehen“ gesehen haben. Geradezu abenteuerlich war das Konstrukt, über angebliche Alkoholmengen, die er am Abend und in der Nacht vor dem Verbrechen getrunken haben wollte. Wäre dem so gewesen, dann hätte er am Morgen des 20. Dezember, wenn überhaupt, nur mit Mühe aus dem Bett krabbeln können. Stattdessen sahen die Zeugen, wie ein junger Täter wieselflink nach den Schüssen aus dem Kiosk an der Ecke Rathausstraße/Armenruhstraße in Richtung Schlosspark flüchtete. Ein trainierter Hobbyläufer, der ihn verfolgte, konnte ihm nicht näher kommen.
„Ohne erkennbare äußere Beeinträchtigung“ sei der Täter geflüchtet, fasste der Vorsitzende Richter Jürgen Bonk die Aussagen von Zeugen zusammen. „Die Angaben zur Trinkmenge sind aus Sicht der Kammer unglaubhaft.“ Benjamin G. hängte den Verfolger ab, drei, vier Minuten nach dem Verbrechen war er in seinem Einzimmer-Appartement in der Straße Am Schlosspark. Er entledigte sich der verräterischen Kleidung, lud vier Patronen für die verschossene Munition nach und machte sich dann auf den Weg zu seiner Freundin. Alles geordnet, alles planmäßig. Und doch die sinnlose Tat eines irrational Handelnden. Denn ein Motiv bleibt auch weiter im Dunkeln. Für einen Raubüberfall jedenfalls spreche nichts, so das Gericht.
Akribisch zerlegen die Richter in der mündlichen Urteilsbegründung das Tatgeschehen, die Stunden davor – soweit belegbar –, und das Verhalten nach der Tat in allerkleinste Schritte. Das dient zuvorderst der Klärung der Tat- und Schuldfrage des Angeklagten, es ist aber auch ein Stück anschauliche Rechtskunde. Da prallen die öffentliche Erwartungshaltung, das Stimmungsbild, besonders aber das unermessliche Leid der Opfererfahrung auf juristische Regeln und Kategorien. „Es gibt ganz klare Vorgaben“, sagt Bonk, und zwar die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. „Rechtstechnisch“ sei der Schuss auf Bodo Wagner nun mal kein Mordversuch.