Samstag,
27.10.2018 - 05:00
4 min
Schallplatten erleben in Wiesbaden eine Renaissance

Von Birgit Emnet
Mitarbeiterin Lokalredaktion Wiesbaden

Manfred Eisele mit dem berühmten Butcher-Cover der Beatles. Foto: Birgit Emnet
WIESBADEN - Wer samstags durch die Mauergasse schlendert, trifft in Höhe der Hausnummer 15 auf ein besonders entspanntes Völkchen. Menschen sitzen vor den Cafés, Bistros, der Weinstube, genießen ihr Getränk, essen eine Kleinigkeit – und wippen mit dem Fuß. Manfred Eisele, Betreiber des Schallplatten-Antiquariats, hat mal wieder einen italienischen Schlager aus den 60er Jahren aufgelegt, eine Swingplatte oder französische Chansons. Eisele berichtet von einem älteren Ehepaar, das „jeden Samstag um 11 in der Pizzeria gegenüber einen Tisch bezog und bis um drei blieb“. So lange, wie der Plattenverkäufer in Absprache mit seinen Nachbarn die Gasse beschallt. Seit Jahren ein samstägliches Ritual.
Betritt man Eiseles Reich der Kuriositäten und vinylen Kostbarkeiten, dann hängt buchstäblich der Himmel voller Musik: Schallplatten an Nylonschnüren, Instrumente, es baumelt gar ein ganzes Schlagzeug mit Aufdruck „The Beatles“ von der Decke. Kein Original allerdings, wie Eisele versichert. Die Pilzköpfe gibt’s auch noch in Puppenform, als Poster und natürlich auf Platte. Der größte Schatz des Sammlers Eisele ist die LP „Yesterday And Today“ von 1966 mit dem „Butcher-Cover“, auf dem die Beatles in weißen Kitteln und mit Schlachtabfällen zu sehen sind. Die „Fab Four“ protestierten damit gegen die amerikanische Plattenindustrie, die Original-Alben wie Schlachter (butcher) zerlegt und die Titel neu zusammengewürfelt habe, wie Eisele weiß, der vor Anekdoten um das „schwarze Gold“, wie eine werthaltige Vinylscheibe auch genannt wird, sprüht. Bis zu 39.000 Dollar könnte eine solche Rarität heute erzielen, deren Verkauf damals binnen Stunden gestoppt wurde.
Heute kommen auch Frauen in den Laden
77 Jahre alt ist der Plattenladenbetreiber, jetzt im Oktober verkauft er seit 25 Jahren gebrauchte Musikträger in der Mauergasse und hat unlängst noch mal seinen Mietvertrag verlängert. Das „Antiquariat“ ist sein Leben, es macht immer noch Spaß, sagt der Vinylfan. Besonders erfreut ihn, dass es seit ein paar Jahren mit der Schallplatte wieder stetig bergauf geht. Und das Publikum sich wandelt. Früher sei der typische Sammler männlich und älteren Semesters gewesen, heute kommen auch Frauen in den Laden und 18- bis 20-Jährige, die den Plattenspieler der Eltern entdeckt haben und vom analogen, haptischen Datenträger begeistert sind. Möglicherweise in Antithese zum scheinbar unbegrenzten digitalen Download oder Musikstreaming, dem niemand mehr habhaft wird.
Auch Neupressungen sind wieder en vogue, wenn auch nicht in Eiseles Laden. In Deutschland hat sich der Schallplatten-Umsatz zwischen 2008 und 2016 verachtfacht, es wurden 2017 LPs im Wert von 74 Millionen Euro verkauft, 3,3 Millionen Stück. Dennoch ist die Schallplatte im Vergleich zu CD, Downloads und Streaming hierzulande ein Nischenprodukt mit einem Marktanteil von 4,4 Prozent, berichtet der Bundesverband der Musikindustrie. Aber die Nische wird stetig größer.
Was Eisele ausmustert, geht nach China
Auf deutlich mehr Käufer blickt heute auch Manfred Eisele, der einst im Plattenladen der Eltern in Offenbach begann, 1970 sein Geschäft in der Wiesbadener Langgasse 27 eröffnete und teils parallel auch in Mainz das „Schallplattenhaus am Markt“ betrieb. In der Langgasse gab’s einen DJ, der vier Plattenteller bediente, die Kunden konnten nebenan in Kabinen das ausgewählte Musikstück hören. Dabei blieb’s nicht, wie Eisele schmunzelt, „da wurde auch mal Hasch geraucht und sich zu zweit vergnügt“.
1982 musste er wegen einer drastischen Mieterhöhung den Laden in Wiesbaden schließen, bis 1992 war Eisele noch in Mainz zugange. Dann kam das Angebot in der Wiesbadener Mauergasse, „damals war’s ein Risiko“. Die Umsätze mit dem anachronistischen Tonträger lagen am Boden, in der Mauergasse fuhren zuerst noch massenhaft Autos, dann begannen monatelange Bauarbeiten für die neue Fußgängerzone. Heute aber ist aus dem totgesagten Geschäft ein florierender Geheimtipp für die immer zahlreicher werdenden Liebhaber der schwarzen Rille geworden. Die letzten drei Jahre sei die Renaissance des Vinyls unaufhaltsam gewesen, sagt Eisele. Bundesweit wird von jährlichen Zuwächsen von über 30 Prozent berichtet. Alle Genres habe dies umfasst, „mit Ausnahme Klassik“. Lediglich Komponisten des 20. Jahrhunderts seien bei speziellen Sammlern gefragt, „Stockhausen wird mir aus der Hand gerissen“. Ansonsten geht Rock und Pop aus den 60ern und 70ern am besten.
Eisele kauft große Bestände, meist Nachlässe, sortiert, katalogisiert und säubert. Jede Platte bei ihm ist geprüft. Was er ausgemustert hat, geht nach China, „die sind ganz wild auf Vinyl“. Im Laden stehen derzeit 28.000 Tonträger. Darunter auch einige wenige CDs, die er ganz aufgeben will. Sein Credo ist das eines eingefleischten Vinyl-Connaisseurs: „Eine gute Platte auf einem guten Plattenspieler ist wie ein 1983er Chateau Lâfite, eine CD auflegen ist wie Kaiser-Friedrich-Quelle.“