Wiesbaden schafft es unter die Top Ten der "sexpositiven" Städte. Gefeiert wird das tolerante Lebensgefühl, doch die hohe Anzahl an Bordellen zeigt die dunkle Seite der Medaille.
Von Julia Anderton
Lokalredakteurin Wiesbaden
Julia Anderton.
(Grafik: VRM)
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WIESBADEN - Wiesbaden. Wir haben heiße Quellen und große Bälle zu bieten. Sensationelle Feste, beeindruckende Villen und köstliche Ananastörtchen! Für ein Übermaß prickelnder Erotik jedoch war Wiesbaden (da müssen wir schon ehrlich sein) bislang wahrlich nicht bekannt. "Spießig" nennen uns die freigeistigen Mainzer. "Bieder" die weltoffenen Frankfurter.
Ausgeschlagen ist das Lustbarometer zu unseren Gunsten durch die an der Einwohnerzahl gemessenen besonders stark ausgeprägten sexuellen Parameter, die das Magazin dem Ranking zugrunde legte: Drei Sexshops und ein Swingerclub, 15 Bordelle, ein Gay Pride-Event, eine LGBTQIA+-freundliche Bar (eine Abkürzung für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle/Transgender-, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen) und vier gesundheitliche beziehungsweise sexualmedizinische Beratungsangebote haben Wiesbaden in die lustvolle Liga katapultiert.
Die Nachricht schlägt seitdem hohe Wellen in den sozialen Medien: Es ist eine Mischung aus Unglaube und Lokalstolz, die die Wiesbadener Herzen und Kommentarfelder zum Beben bringt. Aber auch Unverständnis ist dabei: Bordelle und LGBTQIA-Freundlichkeit sei nicht gleichzusetzen, lautet ein Kritikpunkt.
Tatsächlich verhält es sich bei dem Ranking wie bei so vielen anderen Abstimmungen: Sie sind - wenngleich nachvollziehbare Bewertungskriterien zugrunde liegen - selten objektiv. Das Magazin "Lust" setzt sich für die Entstigmatisierung der Sexarbeitsbranche ein, das ist der Hintergrund des Rankings. Dies ist freilich eine Gratwanderung, denn in Deutschland schaffen nicht nur 40.000 offiziell gemeldete Sexarbeiterinnen an (die das in der Regel eben nicht aus Lust, sondern aus wirtschaftlichen Motiven tun, nicht selten unter Zwang), sondern eine Menge Frauen, die unter dem Radar fliegen: Armutsprostitution, Zwangsprostitution, Menschenhandel - die Grenzen sind mitunter fließend.
Gerade im Rhein-Main-Gebiet sind die Osteuropäerinnen in der Überzahl, emotional missbraucht, psychisch malträtiert und sexuell ausgebeutet finden sie der Sprache nicht mächtig selten Beistand - schon gar nicht bei lustvoll aktiven Freiern. In Wiesbaden gibt es zwar durch das Prostituiertenschutzgesetz die gesetzliche Verpflichtung zum gesundheitlichen Beratungsgespräch, doch dient diese Bescheinigung nur der Genehmigung zur Ausübung.
Keine Anlaufstelle für Prostituierte
Eine echte Anlaufstelle existiert nicht, weshalb die Streetworkerinnen der Frankfurter Organisation Frauenrecht ist Menschenrecht (FIM) hier regelmäßig in Kooperation mit der AIDS-Hilfe Wiesbaden im Einsatz sind. Sie wäre aber wichtig - menschlich, sozial, gesellschaftlich: Denn der Begriff "sexpositiv" beschreibt ein offenes und gleichberechtigtes Miteinander. Dafür muss man sehen, begreifen, tolerieren, was da ist und überlegen, was man gegebenenfalls verbessern kann und muss.
So gesehen sind auch Gay Pride-Events eben kein Party-Event, wie ein weiterer Kritikpunkt lautet. Sie zeigen vielmehr die Akzeptanz aller sexuellen Orientierungen und stehen für ein freies, selbstbestimmtes Lebensgefühl in unserer Stadt, wo Minderheiten wie auch die LGBTQIA+-Community nicht mehr eingeschränkt oder beäugt werden. Und mit solchen Federn darf man sich dann auch mal schmücken - und weiter daran arbeiten!