Brüder im Glück: Wie die Flüchtlinge Mohamad und Ibrahim in Wiesbaden zusammenfanden
"Es ist das erste vollständige Weihnachten.“ Anna Schnelting freut sich auf das Zusammensein mit der Familie. „Vollständig“, das heißt für Anna, die als ehrenamtliche Helferin Flüchtlinge betreut und deren Familie den damals 18-jährigen Mohamad bei sich aufgenommen hat, dass auch der junge Syrer endlich mit seinem kleinen Bruder feiern kann. Denn Ibrahim ist erst vor wenigen Wochen dazugestoßen.
Von Birgit Emnet
Mitarbeiterin Lokalredaktion Wiesbaden
Nach drei Jahren wieder zusammen: die Brüder Mohamad (mit Mütze) und Ibrahim aus Syrien, links mit Anna Schnelting. Fotos oben und unten: Wiedersehen in Thessaloniki. Fotos: Anna Schnelting
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WIESBADEN - "Es ist das erste vollständige Weihnachten.“ Anna Schnelting (22) freut sich auf das Zusammensein, mit Baum, Weihnachtsessen und Geschenken, um die gewürfelt wird bei der Familie Schnelting-Finnegan in der Wiesbadener Lahnstraße. „Vollständig“, das heißt für Anna, die als ehrenamtliche Helferin seit September 2015 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Eritrea betreut und deren Familie den damals 18-jährigen Mohamad bei sich aufgenommen hat, dass auch der junge Syrer endlich mit seinem kleinen Bruder feiern kann. Denn Ibrahim (15) ist dazugestoßen im September. Trotz Nachzugsstopps für Familienangehörige besteht für Minderjährige eine Ausnahme. Ein monatlich kleines Kontingent, berichtet Anna Schnelting, darf im Zuge der Familienzusammenführung doch zu subsidiär Schutzberechtigten nachreisen.
Aber das dauerte. Trotz steter Bemühungen Annas beim Ausländeramt. Mehr als anderthalb Jahre verbrachte Ibrahim Sabei, der jüngere Bruder von Mohamad Amin Sabei, zuerst im Flüchtlingslager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, dann in Thessaloniki. In drei Camps leben dort 70.000 Menschen. Härteste Bedingungen, kaum sanitäre Anlagen, überwacht von Soldaten. Das Essen hat Ibrahim meist nicht angerührt. Er verzieht das Gesicht, so widerwärtig hat er es in Erinnerung. Zusammen mit seinem besten Freund hauste er in einem Zelt in einer Art Fabrikhalle auf engstem Raum. Sein Zuhause für über ein Jahr.
Lieber Flucht als Tod
Dennoch fand er Kumpels. Und Thessaloniki als Stadt auch ganz okay. Sie erinnerte ihn an sein Zuhause Latakia an der syrischen Westküste, wo Mutter und drei erwachsene Schwestern, die bereits Kinder haben, zurückgeblieben sind. Mohamad und Ibrahim drohte der Militärdienst bei Assads Truppen. Dann lieber die Flucht als der Tod.
Anna Schnelting besuchte den Minderjährigen schon einmal in seinem Flüchtlingscamp, in das er sich auf abenteuerliche Weise durchgeschlagen hatte. Einen Monat vor Grenzschluss traf er in Griechenland ein. Dann das Wiedersehen der Brüder, arrangiert von Anna. Sie flog am 31. Juli mit Mohamad, für den im Freundeskreis Geld gesammelt wurde, von Köln nach Thessaloniki. Im Abholbereich des Flughafens wartete schon Ibrahim. „Ich war ultraaufgeregt“, erzählt Anna. Sie hat ein Video gedreht von der Begrüßung, mit Tränen in den Augen. Drei Jahre hatten sich die Brüder nicht gesehen, aber regelmäßig über Handy Kontakt gehalten. Die Freude war groß, sie telefonierten gleich mit der Mutter. Und auch strategisch war der Trip hilfreich. Danach ging es mit dem Nachzug ganz schnell.
Ein Kulturschock
Am 28. September traf Ibrahim in Frankfurt ein, direkt abgeholt vom Jugendamt. Er musste nicht über die Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen, die erkennungsdienstlichen Formalitäten wurden in Frankfurt erledigt. Weil minderjährig, kam er in Wiesbaden ins Antoniusheim, lebt mit knapp hundert anderen Jugendlichen im „Blauen Haus“ und besucht die Louise-Schroeder-Schule. Täglich trifft er sich mit Mohamad, der ja seit über einem Jahr bei Annas Familie lebt, in die Kerschensteinerschule geht und schon sehr gut Deutsch spricht. Das steht Ibrahim noch bevor, nach Griechisch lernt er jetzt Deutsch. „Es ist schon auch ein Kulturschock“, sagt Anna, „und nicht so leicht, hier anzukommen.“ Aber er hat Mohamad, der sich verantwortlich fühlt. Das hilft über manche Startschwierigkeiten hinweg. Der Ältere assistiert bei Ämterbesuchen, begleitet ihn zum Arzt oder zu Terminen im Antoniusheim.
Die Brüder gehen nach der Schule gern zusammen spazieren, erzählen sie, im Kurpark, über den Sternschnuppenmarkt. „Das ist was Neues“, sagt Mohamad, das kennen die beiden nicht aus Syrien. Und auch Weihnachten wie es bei der österreichisch-irisch-deutschen Patchworkfamilie Schnelting-Finnegan gefeiert wird, ist für Ibrahim eine Premiere. „Ein großes Thema ist abgehakt“, sagt Anna erleichtert.
Zukunft liegt in Deutschland
Wie’s weitergeht? Der 19-jährige Mohamad plant, nach dem Hauptschul- auch den Realschulabschluss zu machen. Er will gern Polizist werden. Sein Traum, weil er von der deutschen Polizei so gut behandelt worden sei. Der Kleine, fast größer als sein Bruder, nennt als Berufswunsch Pilot. Dafür braucht er Abitur. „Er ist noch jung“, sagt Mohamad, „das schafft er.“ Zurück nach Syrien wollen beide höchstens mal zu Besuch, wenn das wieder geht.
„Meine Zukunft ist hier“, meint Mohamad, „nicht in Syrien.“ Das sagt er, obwohl ihn die eine oder andere unschöne Begegnung auch schon nachdenklich stimmte. Er musste sich verteidigen, warum er überhaupt hier sei. „Es gibt überall gute und schlechte Leute.“ In Deutschland habe er einfach die bessere Chance.