Sonntag,
22.09.2019 - 10:07
5 min
Von Harry Potter bis Okkultismus: Wie viel Magie ist ok?

Von Julia Anderton
Mitarbeiterin Lokalredaktion Wiesbaden

Die Geschichte von Alice, die im Wunderland die absonderlichsten Gestalten trifft, fasziniert Kinder seit mehr als 100 Jahren. (Foto: John Tenniel/wikimedia)
HÜNSTETTEN - Als Kind war Lena van den Hoven besessen von magischen Erzählungen und schrieb sogar selbst fantastische Kurzgeschichten. „Immer ging es um Magie, um Dinge, die nicht greifbar waren, aber doch da!“, erinnert sich die 39-Jährige, die heute mit Mann und drei Kindern in Hünstetten im Taunus lebt. Ihr ältester Sohn, elf Jahre alt, eifert ihr nach. Er liebt Harry Potter, malt magische Motive und verschlingt alles, was mit Zauberei und Fantasy zu tun hat.
Ihr Sohn sieht Dinge, die andere nicht sehen
„Da die Stimmung der Bücher so stark ist, ist die ganze Familie mehr oder weniger infiziert“, berichtet Lena van den Hoven. Ihr Sohn sei sehr stark in der Wahrnehmung und sehe manchmal Dinge, die sie nicht sieht – etwa Farben um Menschen herum. Sorgen macht sie sich nicht, denn der nüchterne Schulalltag bringe ihn ausreichend zurück auf die Erde. Und ein bisschen Zauberglaube dürfe ruhig sein: „Wie häufig gibt es Situationen, in denen wir intensiv an einen Menschen denken und kurz danach hören wir von ihm! Oder ein eben noch gedachter Gedanke wird von einem eng vertrauten Menschen schon ausgesprochen.“
Einen gewissen Hang zum magischen Denken attestiert Dr. Christiane Mörser-Zimmermann, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie in Wiesbaden, vielen Menschen. Meist sei er unbedenklich und vielleicht sogar hilfreich – wenn etwa eine Sport-Mannschaft ihr Maskottchen im Glauben mitführt, dadurch wäre der Sieg sicher oder Schüler sich ihr Buch unter das Kissen legen, damit der Stoff am nächsten Morgen besser im Kopf ist. Gehen diese suggestiven Gedanken jedoch über ein normales Maß oder weit über den herkömmlichen Aberglauben hinaus, besteht der Verdacht auf eine Erkrankung.
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„Bei Menschen mit Psychosen treten magische Denkweisen häufig im Vorfeld auf. So erlebt ein Betroffener, dass ein Nachrichtensprecher eine Botschaft gesendet hat, die ihm eine Richtung weisen soll. Ein anderer hat Elstern über seinem Haus beobachtet und schließt daraus, dass sein Haus ausgeraubt werden soll. In der Fachsprache nennen wir diese Art des magischen Denkens paranoide Ideen, die richtungsweisend für die Entwicklung einer Psychose sein können.“ Dass die Magie längst nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch zunehmend bei Erwachsenen auf große Gegenliebe stößt, sieht Dr. Mörsel-Zimmermann zum Einen durch die hohe Popularität der Filme und Bücher des Fantasy-Genres verursacht. Gleichzeitig handle es sich um ein gesellschaftliches Thema. Der Wunsch nach Träumen, Fantasie, Wertschätzung und Wahrnehmung der Besonderheit jedes Einzelnen sei ein Symptom unserer Zeit. „Ich sehe nicht in der Fantasy-Welt die problematische Entwicklung, sondern in unserer Gesellschaft, die Individualität und Menschlichkeit zunehmend abschafft.“ Hinzu kämen oft Unsicherheiten in Sachen Politik, Klima, Energie oder auch der persönlichen finanziellen oder gesundheitlichen Situation. „Da ist es nicht erstaunlich, sich gedanklich wegbeamen zu wollen in eine Fantasiewelt, in der die Wesen höchst besonders sind, mit herausragenden Fähigkeiten und magischen Kräften, und in der immer das Gute siegt.“ Pathologisch werde dieser Hang indes, wenn Menschen in der Fantasiewelt versinken, tage- oder stundenlang suchtartig entsprechende Bücher, Filme oder Computerspiele konsumieren oder eigenes magisches Denken auftaucht.
Neigung zur schwarzen Magie kann riskant sein
Maria-Christine Anders, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin der LVR-Klinik Viersen, weist darauf hin, dass bereits bei Jugendlichen Zwangshandlungen entstehen können, wenn sie beispielsweise glauben, dass ihre Gedanken, Worte und Handlungen auf magische Weise ein bestimmtes Ereignis hervorrufen oder aber verhindern können. Grundsätzlich problematisch sieht sie Glaube nicht. „Magie und Religion verfügen beide über die Dimension des magischen Denkens. Zum Beispiel sucht der Wünschelrutengänger vielleicht mit Unterstützung von Zauberworten nach Wasser. In der Religion sorgen verschiedene Rituale dafür, dass innerlich eine stabilere Beziehung zum Göttlichen entsteht. Diese Zauberformeln, Glücksbringer und religiöse Rituale können harmlose Denk- und Verhaltensweisen kanalisieren und somit für Menschen mit entsprechender Neigung hilfreich sein.“
Ein psychisch gesunder Mensch könne im Gegensatz zu psychisch labilen oder kranken Menschen diese Gedanken mit der Realität abgleichen. Gefährlich werde das krankhafte magische Denken, wenn Menschen manipulierbar werden, nicht mehr in der Realität verhaftet sind und aus diesem Grund in einem hohen Maße schutzbedürftig werden. Ein Beispiel sei der Krebspatient, der sich der medizinischen Behandlung entzieht, da er überzeugt ist, das Handauflegen einer Heilerin würde reichen. Generell unbedenklich sei das magische Denken in der Kindheit, da es eine normale Durchgangsphase in der Entwicklung darstellt. Solange es Teenagern und erwachsenen Menschen gelinge, ihre magische Neigung als Hobby zu leben und sich gedanklich davon lösen zu können, sei auch hier alles im grünen Bereich. „Bedenklich kann es werden, wenn keine Verantwortung mehr für das eigene Handeln übernommen wird und derjenige sich selbst oder andere gefährdet“, warnt Maria-Christine Anders.
Auch die Neigung zur schwarzen Magie, die häufig in Online-Foren und sozialen Medien gelebt wird, könne riskant sein, wenngleich diese bereits seit der Antike mündlich in Form von „Schadenzauber“ oder „Verwünschungen“ tradiert wurde. „Das Internet ist somit ein modernes Kommunikationsmittel für eine sehr alte überlieferte menschliche Gedankenwelt. Es erscheint insofern gefährlicher, da wenig regulativ durch direkte Kommunikation eingegriffen werden kann und unbekannt ist, auf welche Persönlichkeitsstruktur diese Nachrichten treffen.“ Für den Sender solcher Nachrichten könne es reizvoll sein, Allmacht zu erleben oder aufgestaute aggressive Impulse auszutragen, ohne Verantwortung zu übernehmen.
Ein „Schadenzauber“ kann Panik auslösen
Eine solche Motivation mache die „dunklen“ Botschaften umso gefährlicher, wenn sich Gleichgesinnte verbünden, da sie so den ‚Schadenzauber‘ für den Empfänger potenzierten: Dies könne beim Betroffenen Ängste und Panik auslösen – mit ähnlichen Folgen wie in Mobbingsituationen. „Das Fatale ist, dass Menschen, die sich vernunftmäßig von solchen negativen Gedanken oder Sprüchen distanzieren können, unbewusst womöglich doch in gewisser Weise Opfer dieser negativen Suggestionen werden“, ergänzt Dr. Mörsel-Zimmermann. Davon lebten auch über WhatsApp verbreitete Kettenbriefe, die bei Nicht-Weiterleitung Katastrophen prognostizieren. „Es wäre schon Einiges geholfen, wenn Empfänger solcher Nachrichten genug Widerstandskraft hätten, um sie nicht ernst zu nehmen“, meint die Ärztin. „Die Verbreitung wäre gestoppt, das Gute würde hier tatsächlich über das Böse siegen – noch dazu in der realen Welt!“