Ehemalige und aktive Kiedricher Chorbuben teilen Erinnerungen aus über 70 Jahren. Darunter ist auch der berühmte Countertenor Andreas Scholl.
Von Marie Huhn
Führen die Tradition weiter: Die neuen Kiedricher Chorbuben und -mädchen (1. Reihe) mit ihrem Chorregent Gabriel Heun und den älteren Kiedricher Chorbuben.
(Archivfoto: Chorstift Kiedrich)
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KIEDRICH - „Man musste schon hart im Nehmen sein“, erinnert sich Petra Schäfer. Sie war eines der ersten Chormädchen bei den Kiedricher Chorbuben. Mit kurz geschnittenen Haaren und herausgenommenen Ohrringen, um nicht als Mädchen erkannt zu werden. „Wir haben uns verkleidet“, bestätigt sie, denn Mädchen in den Chor zu lassen, war zunächst bloß eine Notlösung gewesen, um die sinkende Zahl der hohen Chorstimmen auszugleichen. Eine in heutigen Zeiten ebenso fremd klingende Geschichte erzählt Ansgar Kriesel stellvertretend für seinen Vater Bruno Kriesel. Dieser hatte im Januar 1943 mitgeholfen, das Dreikönigs-Singen unter den Kiedricher Chorbuben einzuführen. Dieses endete allerdings mit einer Geldstrafe für den Chorregenten und angedrohten Sanktionen bei der NSDAP Kreisleitung in St. Goarshausen. Als König Balthasar hatten sich die Chorbuben mit angebrannten Weinkorken das Gesicht geschwärzt. Die Anschuldigung daraufhin hieß: „Verherrlichung einer minderwertigen Rasse.“
Um genau solche Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren, hat Chorregent Gabriel Heun zu einem Gesprächsabend unter dem Motto „Die Kiedricher Chorbuben im Wandel der Zeit“ eingeladen. Seinem Aufruf sind zahlreiche ehemalige und noch aktive Chorbuben gefolgt, die in das Kiedricher Chorstift nicht nur alte Fotos und Zeitungsartikel, sondern vor allem jede Menge Erinnerungen mitgebracht haben.
Countertenor Andreas Scholl erinnert an Fußball
„Chorbube zu sein war für uns damals ein großer Wunsch“, erzählt Peter-Josef Bibo. Der 79-Jährige zählt mit zu den ältesten Chorbuben und erinnert sich, wie stolz er damals gewesen war, mitsingen zu dürfen und ein Teil der Gemeinschaft zu sein. Auch Countertenor Andreas Scholl denkt vor allem an den Zusammenhalt unter den Chorbuben gerne zurück. „Wir haben jeden Tag, außer samstags, bis zu einer Stunde geprobt“, erzählt er. Doch die Gesangstunden seien nur das eine gewesen. Meist habe man sich schon eine Stunde vorher getroffen, um zusammen auf dem angrenzenden Bolzplatz Fußball zu spielen. „Wir haben teilweise auf dem Boden gelegen vor Lachen“, meint er. Der Chor habe sich für ihn wie eine „Bruderschaft“ angefühlt, bei der tiefe Verbindungen entstanden seien.
Führen die Tradition weiter: Die neuen Kiedricher Chorbuben und -mädchen (1. Reihe) mit ihrem Chorregent Gabriel Heun und den älteren Kiedricher Chorbuben. Archivfoto: Chorstift Kiedrich
Die Chorbuben bei einer Probe 1962 in der St. Michaelskapelle in Kiedrich. Archivfoto: Werner Kremer
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Einen großen Beitrag dazu hätten die „legendären Chorfahrten“ geleistet. Ein Stichwort, das scheinbar bei allen anwesenden Ehemaligen Erinnerungen wachruft. Denn sofort werden Anekdoten erzählt, von auf der Rückreise von Mailand verloren gegangenen Chorbuben, die dann doch schneller als der Rest in Mainz ankamen, vom Wandern ins Wispertal Anfang der 1950er Jahre, von den in Erbenheim stationierten Amerikanern verschenkten Zelten und versalzenem Grießbrei, oder dem Essen von bis dahin für die Jungen unbekannt langen Nudeln in Rom. „Man merkt einfach, wer mal im Chor war. Wir haben im Grunde alle die gleichen Geschichten zu erzählen“, meint Scholl.
Der Chor verbindet die Generationen
So verbinde der Chor letztlich nicht nur durch gemeinsames Singen, sondern generationsübergreifend. Deshalb ist sich Peter-Josef Bibo auch sicher: „Wenn man einmal Chorbub ist, bleibt man immer ein Chorbub.“