Dr. Cihan Celik, Lungen-Facharzt am Klinikum Darmstadt, über die neue Sorglosigkeit beim Maskentragen, die Tücken der neuen Virus-Varianten und den derzeit bestmöglichen Schutz.
DARMSTADT. Masketragen, echt lästig: Das scheinen immer mehr Menschen zu finden und lassen die Schutzmaßnahmen selbst in Bussen und Bahnen sausen. Schlechte Idee, sagt Dr. Cihan Celik. Der Lungen-Facharzt des Klinikums Darmstadt, das als Versorgungszentrum für Südhessen fungiert, erklärt im Interview mit dieser Zeitung, wie sich Nachlässigkeit rächen kann, wer derzeit besonders gefährdet ist und was der beste Schutz für den Herbst wäre.
Herr Dr. Celik, wie ist die Lage am Klinikum?
Die Anzahl der stationär behandelten Patienten mit Corona ist deutlich angestiegen. Das haben wir mit Aufkommen der Omikron-Varianten auch erwartet. Was wir aber nicht erwartet haben: dass wir hier im Krankenhaus so viele symptomatisch schwer erkrankte Patienten sehen würden. Ich habe das schon vor fünf Wochen per Twitter gemeldet: Unsere BA.5-Patienten sind deutlich kränker als die Menschen, die sich mit den ersten Omikron-Varianten angesteckt hatten. Jetzt brauchen mehr Patienten wieder Sauerstoff. Das könnte aber auch ein statistischer Effekt sein, wenn die aktuelle Dunkelziffer der Infektionen sehr viel höher liegt. Die Organisation der Krankenhäuser ist inzwischen übrigens eine ganz andere als vor einem Jahr.
Was ist anders?
Inzwischen dürfen Covid-19-Patienten ohne schwere Symptomatik auch auf ganz normalen Stationen behandelt werden. Sie werden dort isoliert. Sobald sie aber schwere respiratorische Symptome entwickeln, werden sie von unserer Abteilung behandelt, weil wir ihnen spezifische Therapien anbieten können. Und diese Zahl der Patienten auf der Covid-Normalstation ist deutlich gewachsen.
Wie stark?
Derzeit behandeln wir 27 schwer symptomatische Patienten auf unserer Normalstation, 15 von ihnen haben wir über das Wochenende neu aufgenommen. Ungefähr nochmal so viele Patienten mit Covid als Nebendiagnose liegen auf anderen Stationen. Auf die Intensivstation müssen aber derzeit nur wenige verlegt werden, momentan sind dort vier in Behandlung.
Wie erklären Sie sich diesen Anstieg? Landläufig gilt Omikron ja als Variante, bei der man nicht unbedingt mit heftigen Beschwerden rechnen muss.
Omikron ist nicht gleich Omikron, denn wir haben hier einen deutlichen Wandel zwischen der BA.2- und BA.5-Welle erlebt. Das deckt sich auch mit den Ergebnissen der bisherigen Grundlagenforschung. Dieses Virus scheint stärker ins Gewebe einzudringen und die Lunge stärker zu betreffen. Das trifft vor allem Menschen mit bestimmten Voraussetzungen: Wenn die Menschen älter als 70 Jahre alt sind, Vorerkrankungen mitbringen und die Impfung schon länger zurückliegt, ist es wahrscheinlicher, dass sie so schwer erkranken, dass sie Sauerstoff brauchen und Komplikationen erleiden. Die Ungeimpften, die schwer erkranken, sind im Schnitt 20 Jahre jünger und sind überproportional häufig betroffen, auch wenn sie in Absolutzahlen die Minderheit auf Station sind.
Reicht die Zahl der Betten aus, vor allem auch die Zahl des ärztlichen und Pflegepersonals, um diese Kranken zu behandeln?
Die Anzahl der Betten war nie das Problem, der große Engpass ist das Personal. Das gilt für den ärztlichen, besonders aber für den pflegerischen Bereich auf den Normalstationen. Dazu tragen die hohen Krankenstände aufgrund von Corona-Infektionen bei. Es macht sich aber auch der Verschleiß, die Überarbeitung vieler Pflegekräfte bemerkbar. Ich höre oft: Der letzte Sommer hatte uns sehr geholfen, mit weniger Covid-Fällen, einer entspannteren Personal-Situation – da konnten wir Kräfte auftanken. Aber in diesem Jahr ist dieser Sommer komplett ausgefallen. Das ist gerade sehr schwierig für uns.
Seit neun Wochen gibt es hessenweit fast keine Beschränkungen mehr durch die Politik. Stattdessen appelliert man an die Verantwortung des Einzelnen. Funktioniert das aus Ihrer Sicht?
Ich sehe nicht, dass das schon gut funktioniert. Ich nehme wahr, dass alle Menschen gleichzeitig die Vorsicht haben fallen lassen. Hier auf der Station sehe ich aber täglich, wer besonders bedroht und betroffen ist von schweren Verläufen. Ich denke daher, dass die Menschen mit besonderem Risiko besser aufgeklärt werden müssten, auch von ihren Ärzten. Sie müssen sich klarmachen, dass der Wegfall der gesetzlichen Auflagen nicht bedeutet, dass sie selbst alle Schutzmaßnahmen fallen lassen sollten. Sie müssen einfach weiterhin vorsichtiger sein als junge Menschen, die jetzt wieder auf Partys gehen.
Die Sorglosigkeit geht bis hin zu Äußerungen, dass man sich gerade jetzt anstecken sollte, um die vermeintlich weniger gefährliche Virus-Variante zu bekommen und besser für den Herbst geschützt zu sein. Also: Maske weg und durch. Ist das aus medizinischer Sicht plausibel?
Nach allem, was wir bisher wissen, ist die hybride Immunität bisher der beste Schutz vor schweren Verläufen. Das bedeutet: Ein vollständig geimpfter Mensch, der zusätzlich auch noch eine Infektion hinter sich gebracht hat, bildet eine länger anhaltende Immun-Antwort aus. Das ist natürlich auch abhängig von seinem Alter, von seinen Vorerkrankungen und seiner Immunabwehr. Das bedeutet aber nicht, dass es eine Garantie gibt, dass die nächste Infektion milde verläuft. Es gibt auch keine Garantie gegen Long-Covid. Und auch keine dafür, dass man nicht andere vulnerable Menschen ansteckt. Gerade in Hochinzidenz-Phasen, wie wir sie gerade haben, kann die Dynamik so an Fahrt aufnehmen, dass auch unser Gesundheitssystem in die Bredouille kommt. Das bedeutet: Keine absichtlichen Infektionen! Die Vermeidung von Infektionen macht weiterhin absolut Sinn, auch wenn manche Menschen das vielleicht als Widerspruch zu den aufgehobenen Schutzmaßnahmen erleben.
Es kann schon willkürlich wirken, wenn man im Bus Maske tragen muss, aber nicht im Gedränge eines Stadions oder in der Konzerthalle.
Sicher, das kann ich nachvollziehen. Aber nach zwei Jahren sollte jeder ein Gespür dafür entwickelt haben, wo und wann es weiter sinnvoll ist, sich mit einer Maske zu schützen oder Abstand zu halten. Egal, ob da eine Aufforderung an der Eingangstür steht oder nicht.
Es gibt die Idee, die Maskenpflicht generell aufzuheben, auch in Bussen und Bahnen, und dafür die Risikogruppen verlässlich mit FFP-2-Masken auszustatten.
Eine solche Strategie hat sich zumindest im bisherigen Verlauf der Pandemie nicht als erfolgreich erwiesen. Wir können den Infektionsschutz nicht nur auf die Risikogruppen abwälzen. Sie können diese Gruppen nicht vom Rest der Risikoausbreitung abschotten. Das deckt sich mit dem, was mir viele Patienten erzählen: Sie sagen, sie hätten immer ihre Maske getragen und wüssten gar nicht, wo sie sich angesteckt haben könnten. Aber es kommt halt doch manchmal die Familie vorbei, oder der Pflegedienst – es gibt immer wieder Kontakte ohne Maske.
Vor neun Wochen hatten Sie gemahnt: Wir dürfen nicht in einen Dornröschenschlaf verfallen, was die Vorbereitungen auf eine Sommer- und Herbstwelle angeht. Sind wir in der Zwischenzeit doch eingenickt?
Ich glaube, die BA.5-Variante hat uns aus klinischer Sicht ganz schön aufgerüttelt. Ich sehe aber noch nicht viel Konkretes, was die Vorbereitungen für den Herbst betrifft. Dann wird bei vielen älteren Menschen, die Risikopatienten sind, die Impfung sehr lange zurückliegen. Es gilt genau zu prüfen: Reicht der individuelle Immunschutz aus? Dann könnten auch allgemeine Schutzmaßnahmen wieder Sinn ergeben. Für mich wäre es zumindest sinnvoll, bis dahin eine gesetzliche Grundlage für die Einführung solcher Maßnahmen zu haben. Ich hoffe, dass wir das nicht brauchen. Aber wenn ich mir die klinischen Auswirkungen der Variante jetzt anschaue, verspricht es nicht viel Gutes für den Herbst.