Seit fünf Jahren dürfen auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Was hat sich seitdem verändert? Zwei Paare aus Mainz erzählen von Hochzeiten, Diskriminierung und ihren Wünschen.
MAINZ. Thilo und Kim Stalbovs heirateten, weil sie es wollten. Am 5. Oktober 2017 war das. Ein wichtiges Datum nicht nur für die beiden. Die Stalbovs waren das erste gleichgeschlechtliche Paar, das in Mainz wirklich getraut und nicht mehr nur verpartnert wurde. Jennifer und Nina Rüttgens heirateten ein Jahr später. Weil sie es mussten. Jennifer war zu diesem Zeitpunkt schwanger und die Ehe mit ihrer Frau eine Voraussetzung dafür, dass beide rechtlich Eltern sind. Zwei Ehen, zwei Mainzer Geschichten, die stellvertretend für die „Ehe für alle“ stehen, die der Bundestag am 30. Juni 2017 beschlossen hatte.
Als die Entscheidung damals gefallen war, rief Thilo Stalbovs sofort beim Mainzer Standesamt an. Am 25. August wollten die Stalbovs die eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen, der Termin stand schon fest, das Datum ist ihr Jahrestag, die Feier war geplant. Er erhielt die Antwort, dass im August noch keine Eheschließung möglich sei. Stalbovs hatte übersehen, dass die „Ehe für alle“ erst am 1. Oktober in Kraft treten würde. Vom Standesamt erhielt Thilo Stalbovs später eine E-Mail, dass die Umwandlung in eine Ehe am 5. Oktober, um 9 Uhr möglich sei. „Ich habe gefragt, ob wir damit die Ersten sind. Das war ja gar nicht geplant.“ Sie waren es. Damit sind die beiden ein für Mainz historisches Paar. „Alle haben angefragt. Zeitung, Radio, Fernsehen.“ Er habe kein Problem mit so etwas, doch sein Mann sei da zurückhaltender, lächelt der heute 42-Jährige.
Kim Stalbovs ist ein Jahr jünger, Psychologe und arbeitet als Kriminologe im öffentlichen Dienst. Thilo Stalbovs ist Förderschullehrer für Inklusion in Hessen. In der Schule hatte er seine Homosexualität nie zum Thema gemacht. Bis zu seiner Hochzeit. „Ich bekam freitagmorgens schon einen Link von einer Schülerin geschickt mit dem Artikel über uns“, erinnert er sich. Sie schrieb dazu: „Ich hab‘ es doch gewusst.“
Hürden bei der Kindesadoption
Jennifer und Nina Rüttgens war eine Hochzeit eigentlich nie so wichtig gewesen. „Wir waren glücklich damit, wie alles war“, erzählt die 38-jährige Jennifer. Doch weil die beiden Pädagoginnen ihre Familie vergrößern wollten, wurde die Heirat notwendig. Nur so konnte Nina das gemeinsame Kind adoptieren. Die Ehe als Voraussetzung für die Stiefkindadoption wurde erst 2020 abgeschafft. Jennifer und Nina heirateten am 29. Oktober 2018 auf der Nordseeinsel Nordstrand im Urlaub. Nur zu zweit. „Für unsere Situation war es perfekt“, schwärmen sie noch heute.
Vor der Geburt ihres Sohnes schrieb Jennifer ihr Testament. „Damit Nina unser Kind mit nach Hause nehmen kann, falls mir etwas passiert.“ Szenarien, über die sich heterosexuelle verheiratete Paare keine Gedanken machen würden. „Da ist der Ehemann automatisch der Vater, auch wenn er nicht der leibliche Vater ist“, erklärt Jennifer. Bei ihr und ihrer Frau stecke ein „Riesenapparat“ dahinter. Den können die beiden acht Wochen nach der Geburt in Gang setzen. Ein Prozess, der Zeit und Geld kostet. Eine Mitarbeiterin des Jugendamts kommt zur jungen Familie nach Hause, Nina muss ihre finanziellen Verhältnisse offenlegen, ihre Familiengeschichte erzählen und mit einem Attest nachweisen, dass sie keine Sucht- oder lebensverkürzenden Krankheiten hat. „Man macht sich nackig“, sagt Jennifer. „Fremde Personen bewerten von außen unsere bewusste Entscheidung für ein Kind.“ Ein Prozess, der bei jedem weiteren Kind wieder von vorne beginnen würde. Bis Termine mit der Notarin, dem Jugendamt und vor Gericht vorüber und die Adoption damit durch sind, vergehen Jahre. „Als wir die neue Geburtsurkunde in der Hand hatten, war unser Sohn zwei Jahre und zwei Monate alt“, erzählen die Frauen.
Diskriminierung im Alltag
Dass es dabei nicht nur um ein Stück Papier geht, zeigt ein Beispiel. „Unser Sohn hatte einen Unfall und musste operiert werden. Zu dem Zeitpunkt war die Stiefkindadoption aber noch nicht durch“, erinnert sich Nina Rüttgens. Im Krankenhaus habe sie keine Einverständniserklärung unterschreiben dürfen. „Ich musste mit dem blutenden Kind nochmal raus und es dann an meine Frau übergeben.“ Alles in allem sei der langwierige Vorgang eine „wahnsinnige Diskriminierung“, sagt Jennifer. Und Nina fügt hinzu: „Wie wäre die Entscheidung ausgefallen, wenn ich zum Beispiel finanziell nicht so gut aufgestellt wäre?“ Die beiden sind enttäuscht, dass auch nach fünf Jahren „Ehe für alle“ die Stiefkindadoption der einzige Weg für lesbische Paare ist, damit beide Elternteile rechtlich anerkannt sind. „Aber ich hätte auch nicht gedacht, dass sich da so schnell etwas ändert“, sagt Jennifer Rüttgens. Für die breite Masse sehe die „Ehe für alle“ schon nach Gleichberechtigung aus. Thilo Stalbovs findet es ebenfalls enttäuschend, dass sich bei der Stiefkindadoption nichts getan hat in den vergangenen fünf Jahren. „Das bleibt eine große Baustelle“, sagt der 42-Jährige. Doch auch in anderen Bereichen sieht er noch Probleme. „Ich habe das Gefühl, dass Homophobie und Transphobie zunehmen.“ In den Sozialen Medien engagiert er sich auch politisch. Im Internet, aber auch auf Veranstaltungen ist er als Dragqueen „Gracia Gracioso“ unterwegs. Er will Vorbild sein und Ansprechpartner – auch in der Schule. „Seitdem ich dort geoutet bin, haben sich gefühlt auch mehr Schüler geoutet.“
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Mittlerweile sehe er seine Homosexualität nicht mehr als Schwäche, so wie früher noch. „Jetzt ist es eine Stärke, ich trete selbstbewusst auf.“ Überhaupt sei es nötig, das Selbstbewusstsein der LGBTQ-Community zu stärken. „Sichtbarkeit spielt eine große Rolle“, sagt Thilo Stalbovs. Diese Sichtbarkeit wünscht er sich – auch außerhalb von Christopher Street Days und ähnlichen Veranstaltungen. Auf der anderen Seite wünscht sich Stalbovs aber auch Normalität. „Die Schüler sehen, dass ich genauso langweilig bin, wie alle anderen Mathelehrer auch. Viele vergessen auch schnell wieder, dass ich schwul bin.“ Die Jugend sei in großen Teilen wesentlich offener als früher. Nur eine Sache stört den Förderschullehrer: „Auf den Schulhöfen ist ‚schwul‘ immer noch das meistgenutzte Schimpfwort. Es rutscht den Kindern einfach so raus.“
Queere Familien sind noch nicht selbstverständlich
Auch Nina und Jennifer Rüttgens finden es wichtig, Sichtbarkeit zu zeigen. „Man muss es vorleben. Das muss in jeden Lebensbereich rein“, sagen sie. Am liebsten ohne große Aufregung. Und eigentlich auch ohne laute Töne. „Wir hätten es gerne leise im Leben“, sagt Nina Rüttgens. Doch wenn laut sein das letzte Mittel sei, dann sei es eben nötig. Eigentlich haben die beiden Frauen nur einen Wunsch: „Wir wollen nichts Besonderes sein.“ So wie zuletzt in der Kita ihres Sohnes. „Hast du zwei Mamas?“, sei der Dreijährige neulich gefragt worden. Auf die Antwort „ja“, habe das fragende Kind einfach gesagt: „Ok.“ Und weg war es. „Wir wollen einfach als Familie wahrgenommen werden“, sagt Nina Rüttgens. Doch geguckt werde immer, das war in Hamburg so, wo die Familie bis zum vergangenen Sommer lebte, bevor sie zurück in die Heimat zog. Und das ist auch jetzt in Mainz noch so. Ja, sie fühlen sich sicher in Mainz, sagen die beiden Frauen. „Aber im Stadtbild ist es als queere Familie nicht selbstverständlich.“
Das bestätigt auch Thilo Stalbovs. Händchen halten sei ohnehin nicht so seins. Doch wenn er den Arm um seinen Mann lege, „dann gucken die Leute immer noch“. Was wünscht sich der 42-Jährige für die Zukunft? Er hoffe, dass es keine Rückschritte gebe, bei dem, was schon erreicht wurde. „Die Verankerung im Grundgesetz wäre wünschenswert“, sagt er. Artikel 3, das Diskriminierungsverbot, solle auch um die sexuelle Identität ergänzt werden.
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Jennifer und Nina Rüttgens wünschen sich „echte Gleichberechtigung“. Dass man sich nicht mehr mit dem Thema Stiefkindadoption beschäftigen muss. „Aber ich habe das Gefühl, dass wir dafür nicht laut genug sind“, sagt Nina Rüttgens. „Die Menschen denken, dass wir alles dürfen und sehen nicht, dass es noch Probleme gibt.“ Für die Generation ihres Sohnes wünscht sich die 39-Jährige: „Dass man sich einfach verlieben kann und dass ein Coming Out kein Thema mehr ist.“ Ihre Frau Jennifer fügt hinzu: „Ich würde mir wünschen, dass man in fünf Jahren so ein Interview nicht mehr führen muss.“