Sabriye Tenberken erzählt Studenten der EBS aus ihrem Leben...
Strahlend-blau sind ihre Augen und weit geöffnet, wenn Sabriye Tenberken über ihr Lebenswerk spricht. Doch die 46-Jährige ist blind. Bereits in der frühen Kindheit begann...
OESTRICH-WINKEL. Strahlend-blau sind ihre Augen und weit geöffnet, wenn Sabriye Tenberken über ihr Lebenswerk spricht. Doch die 46-Jährige ist blind. Bereits in der frühen Kindheit begann ihre Sehkraft zu schwinden, mit zwölf verlor die gebürtige Kölnerin vollständig das Augenlicht. Durch diesen Schicksalsschlag ließ sie sich jedoch nicht aus der Bahn werfen. Vielmehr nutzte sie ihre Situation, um Großes entstehen zu lassen, denn „Dinge, die wir nicht können, machen uns kreativ“, sagt Tenberken.
Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Paul Kronenberg rief sie mehrere Projekte ins Leben, um blinden und benachteiligten Menschen zu helfen. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen veröffentlichte Tenberken mehrere Bücher und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Ihre Erfahrungen teilte die blinde Frau im Rahmen der Vortragsreihe „VIP (Very Inspiring People)-Curriculum“ mit den Studenten der European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel. In dieser Woche begegneten die Studenten faszinierenden Persönlichkeiten, die aus einer persönlichen Not heraus großartige Dinge auf die Beine gestellt haben.
„Als mir bewusst wurde, dass ich eines Tages vollkommen blind sein werde, hatte ich große Angst.“ Sie bezeichnet sich bis heute als einen „sehr visuellen Menschen“: „In meiner Kindheit war ich sehr aktiv. Ich bin viel Fahrrad gefahren, malte, liebte es, Museen zu besuchen.“ Ihre größte Angst war, „im Dunkeln zu leben“. Um zu spüren, was sie eines Tages erwartet, sei sie manchmal in den dunklen Keller gegangen. Hinzu kam die Angst davor, ausgeschlossen zu werden. „In der Schule war ich sehr beliebt“, mit dem Verlust der Sehkraft, wurde ihre Befürchtung Wirklichkeit – sie wurde zum Außenseiter. Mit der Zeit folgte die Transformation von Angst zu Akzeptanz. Als behindert betrachtet sie sich heute nicht. Für die starke Frau zählen die Vorteile, die sie durch ihre Situation erfährt.
Während ihres Studiums – sie studierte Zentral-Asien-Wissenschaften – entwickelte Tenberken die tibetische Blindenschrift, die heute offiziell im tibetischsprachigen Raum verwendet wird. 1997 reiste sie erstmals allein nach Tibet. Es war keine religiöse Motivation, die dieses Reiseziel vorgab. „Ich bin kein spiritueller Mensch. Ich wollte einfach ausbrechen, suchte das Abenteuer.“ Die Reise stellte sie vor viele persönliche Herausforderungen. „Dort betrachtet man Blindheit als eine Strafe“, sagt Tenberken. Man sagt Blinden nach, sie seien in einem vorherigen Leben Mörder gewesen, seien vom Teufel besessen.
Aus der eigenen Not machte die blinde Frau eine Tugend, sie beschloss Menschen mit dem gleichen Schicksal zu helfen. In Tibet begegnete sie ihrem heutigen Partner und Lebensgefährten. Gemeinsam gründete das Paar die Organisation „Braille Without Borders“ – Braille Ohne Grenzen. Mit „Kanthari“, der Akademie für Außenseiter, wie Tenberken und Kronenberg das Projekt beschreiben, helfen sie zudem Menschen aus aller Welt, die durch verschiedene Schicksalsschläge in ihre Situation geraten sind. Es sind Menschen, die eine Vision haben, eine eigene gute Idee. Durch Kanthari werden sie bei der Umsetzung unterstützt. „Es sind soziale Veränderer, Menschen die aus ihrem Leid etwas Positives aufgebaut haben“, sagt das Paar.
Ein kleiner Straßenjunge erkannte die Not
Vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung sieht sie in ihrem Schicksal als blinder Mensch zahlreiche Vorteile. Einer davon: „Ich erfahre Menschen ganz anders, weil die Oberflächlichkeit wegfällt. So begegne ich den wirklich spannenden Persönlichkeiten.“ Es sind Menschen, mit denen Sehende eher selten in Kontakt kommen. „Während einer Reise in Mumbai stand ich mal auf der Straße und brauchte Hilfe auf der Suche nach dem Weg“, erinnert sich Tenberken. Sie fragte Menschen um Hilfe, doch niemand blieb stehen, „plötzlich spürte ich eine kleine, schmutzige Hand in meiner“, – ein kleiner Straßenjunge erkannte ihre Not und half. „Als Dank wollte ich ihm etwas geben, doch er nahm nichts. Er sagte, ‚Du bist eine von uns‘ – wir beide waren Außenseiter.“
Heute ist Tenberken dankbar für ihr Schicksal. „Als Sehende hätte ich nicht dieses interessante Leben führen können.“ Da sie aus einer künstlerischen Familie kommt, wäre sie wahrscheinlich Schauspielerin geworden, „Doch vermutlich keine besonders gute“, vermutet Tenberken, die heute mit ihrem Lebensgefährten Paul Kronenberg in Südindien lebt.
Mit ihrem Besuch schließen Tenberken und Kronenberg die diesjährige Vortragsreihe an der EBS ab. Bereits zum fünften Mal jährte sich das von Honorarprofessor Andreas Heinecke ins Leben gerufene Curriculum.
Von Von Liudmila Shkirtovskaya