„Hier können wir nichts mehr machen“

Dem erfahrenen Rettungssanitäter genügt in den frühen Morgenstunden des 25. Oktober 1997 ein erster Blick – er kommt in dieser Nacht zu spät. Hier kommt jede Hilfe zu...

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WIESBADEN/LORCH. Dem erfahrenen Rettungssanitäter genügt in den frühen Morgenstunden des 25. Oktober 1997 ein erster Blick – er kommt in dieser Nacht zu spät. Hier kommt jede Hilfe zu spät. Vor ihm liegt in der Badewanne eine Tote. Eine junge Frau. Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt, wie der Sanitäter schnell feststellt. „Hier können wir nichts mehr machen“, sagt er zu seinem Kollegen. Kurz darauf wird „unnatürlicher Tod“ bescheinigt.

Nach über 21 Jahren wird seit Anfang dieser Woche der Todesfall der damals 32 Jahre alten Anne D. vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts aufgerollt. Angeklagt ist Mord. Vor Gericht stehen Michael D., der Ehemann, und Kathleen B., damals Geliebte und später Lebensgefährtin. Michael D. war seinerzeit Polizeibeamter in Rüdesheim. Heimtücke und Habgier führt die Staatsanwaltschaft als Mordmerkmale an. Der Prozess mobilisiert im unteren Rheingau, auch am Freitag, am zweiten Verhandlungstag, ist der Zuschauerraum bis auf den letzten Platz besetzt.

Michael D. war damals schnell unter Verdacht geraten, dieser Verdacht hatte sich aber nicht erhärten lassen. Im Mai 2000 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn ein. Beim Landeskriminalamt werden ungeklärte Altfälle neu bewertet, Spuren mit verfeinerten wissenschaftlichen Methoden erneut untersucht. Das brachte eine Wende: Eine DNA-Spur der Geliebten hatte sich auf einer Spurensicherungsfolie vom Arm der Toten finden lassen. Wie erklärt sich das?

Für die Staatsanwaltschaft erklärt sich das so, dass Geliebte und Geliebter gemeinschaftlich handelnd die Ehefrau erst mit dem Medikament Rohypnol betäubt, dann ins Bad gebracht und dort den Kopf der Hilflosen unter Wasser gebracht haben sollen. Anne war ertrunken.

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Michael D. hatte erklärt, dass er nachts in Wiesbaden durch Kneipen gezogen und sehr spät heimgekommen sei. Kurz darauf habe er seine Frau leblos in der gefüllten Wanne gefunden. Den Kopf unter Wasser. Er habe das Wasser abgelassen und versucht, die Frau herauszuziehen. Das habe er aber nicht geschafft.

Es ist ein herausfordernder Indizienprozess: Lässt sich nach über 21 Jahren zweifelsfrei Schuld im Sinne der Anklage feststellen, oder nicht? Und was können Zeugen zur Aufklärung des Sachverhalts überhaupt noch aus eigener Erinnerung beisteuern?

Eine erstaunlich gute Erinnerung hat der Rettungssanitäter, der die Leichenstarre erfühlt hatte. Doch auch bei erstaunlich guter Erinnerung mischen sich Mutmaßungen und Schlussfolgerungen. Am Freitag ist oft zu hören: „Ich geh’ mal davon aus, dass es so war“ oder „Ich glaube, es könnte so gewesen sein“. Wem ginge das anders?

Der Notarzt von damals spricht von „Erinnerungs-Inseln“, mehr sei nicht geblieben. Es sei ihm „peinlich“, dass er so wenig aus der Erinnerung hervorkramen könne. Es gibt zeitnah verfasste Vernehmungsprotokolle, das hilft, ein Bild zu gewinnen. Die Polizisten, die in jener Nacht im Einsatz waren, haben kurz vor dem Prozess ihre Erinnerung durch Lektüre ihrer Vermerke „aufgefrischt“. Sie erinnern sich an einen verzweifelten „Michel“, den der Tod der Ehefrau „fertiggemacht“ habe. Unter Tränen habe er sich Vorwürfe gemacht: „Wäre ich doch nur früher heimgekommen, dann würde sie noch leben. Jetzt hat mein Sohn keine Mutter mehr.“ Die Kollegen gingen von einem Unglücksfall aus. Bauchgefühle. Es gab aber auch ein anderes Bauchgefühl. Für den Michael hätte er seine Hand nicht ins Feuer gelegt, sagt am Freitag ein früherer Vorgesetzter.

Fortsetzung am Montag, 28. Januar, 9 Uhr.