Nach dem Ersten Weltkrieg blieb bei Lorch und Kaub ein Streifen in Form eines Flaschenhalses unbesetzt. Der Freistaat bewahrte sich vier Jahre die Unabhängigkeit.
LORCH. 8000 Einwohner, die nirgendwo dazugehören: Ein ungewöhnliches Schicksal ereilte vor 100 Jahren die Menschen auf einem schmalen Streifen des Rheins bei Lorch und Kaub bis nach Laufenselden. Mit dem Zirkel hatten die Siegermächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Grenzen des Territoriums für ihre militärischen Stellungen gezogen.
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Zwischen den beiden Kreisen, dem amerikanischen Brückenkopf in Koblenz und dem französischen in Mainz, blieben vom Rossstein in Kaub über Lorchhausen bis zum Bodenthal in Lorch 20 Kilometer Rheinufer sowie im Hinterland Ransel, Wollmerschied, Sauerthal, Strüth, Welterod, Zorn, Egenroth und Laufenselden unbesetzt. Die Fläche hatte die Form eines Flaschenhalses. Am 10. Januar 1919 riefen die Einwohner den „Freistaat Flaschenhals“ aus. Er bewahrte sich bis zum 25. Februar 1923 seine Unabhängigkeit. An diesem Tag marschierten die Franzosen doch noch in Lorch ein und setzten dem Treiben ein Ende.
Von Anfang an hatte das französische Militär versucht, die Panne bei der Ausweisung der Brückenköpfe zu bereinigen und auch Lorch und Kaub zu besetzen. Die Chancen, den Anschluss an das unbesetzte Deutsche Reich zu erhalten, standen also von Beginn an schlecht. Dem damaligen Bürgermeister Edmund Pnischeck gelang es dennoch vier Jahre lang, sich den französischen Bestrebungen zu widersetzen.
Für ihre Unabhängigkeit zahlten die Freistaatler aber auch einen hohen Preis. Lorch und Kaub waren praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Keine Verwaltungen und keine Gerichte waren für die Widerständler zuständig. Kein Zug durfte im unbesetzten Gebiet halten, kein Schiff vor Lorch und Kaub anlegen. Die Straßenverbindung nach Limburg, der nächstgelegenen größeren Stadt im unbesetzten Deutschland, war unterbrochen. Die Einwohner im „Freistaat Flaschenhals“ befestigten mit Knüppeldämmen notdürftig Pfade über Feldwege, Wiesen und Waldschneisen, um mit der Außenwelt in Verbindung bleiben zu können.
Wein mit Ochsenkarren in Sicherheit gebracht
Wein aus dem besetzten Rheingau wurde nachts im Ochsenkarren über Waldwege in Lorcher und Kauber Weinkeller geschmuggelt, um ihn vor den Besatzern in Sicherheit zu bringen. Einmal wurde sogar ein Güterzug mit Kohle, der im Rüdesheimer Bahnhof stand, gekapert und von einem Eisenbahner aus dem Freistaat mit einer Lok nach Lorch gebracht. Für längere Zeit, so ist überliefert, hatte der Freistaat damals keine Probleme mit dem Heizen. Sogar sein eigenes Notgeld schuf der Freistaat – heute noch ein begehrtes Sammlerobjekt.
Mit passivem Widerstand antworteten die Freistaatler am 25. Februar 1923 auf den Einmarsch der Franzosen, die Bürgermeister Pnischeck gefangen nahmen. Weil sie sich weigerten, den Anordnungen der Militärs zu folgen, landeten auch seine zahlreichen Nachfolger im Arrest. Vom 25. Februar 1923 bis zum 16. November 1924, dem Ende der Besetzung durch die Franzosen, amtierten in Lorch zwölf Bürgermeister.
Zeitzeugen als Comicfiguren
Die kuriose Geschichte verarbeitet der Hamburger Carlsen-Verlag gerade zu einem Comic, der im März oder April erscheinen soll, wie Peter Josef Bahles, Präsident der Initiative Freistaat Flaschenhals, erklärt. Der Zusammenschluss aus ortsansässigen Winzern und Gastronomen vermarktet seit einigen Jahren die turbulente Geschichte des Landstrichs touristisch. Die Idee mit dem Comic habe allerdings der Verlag gehabt, sagt Bahles. Eines Tages habe er angerufen, erzählt der Kauber Winzer und Hotelier. Die Initiative Freistaat Flaschenhals habe Zeichner und Texter mit allem verfügbaren Material versorgt, auch mit den Aufnahmen, die die Initiative vor einiger Zeit mit den letzten noch lebenden Zeitzeugen gemacht habe. Sie würden nun als Figuren im Comic wieder auftauchen, so Bahles.
Außerdem wird es im Jubiläumsjahr eine Fahrt mit der Dampflok vorbei an allen Schauplätzen der ungewöhnlichen Episode geben (siehe Infokasten). Und noch ein Novum hat sich die Initiative zum 100. einfallen lassen: einen Jubiläumswein mit Trauben aus Lorcher und Kauber Weinbergen. Ein Wein also, der aus zwei Weinanbaugebieten stammt, dem Rheingau und dem Mittelrhein. Deshalb dürfe er nur als Tafelwein vermarktet werden, erläutert Bahles. Den Weintrinker wird das kaum interessieren.