Zufluchtsort: Aus der Ukraine in die Geisenheimer Sporthalle

Kreis-Mitarbeiterin Viktoriya Kalyakima dolmetscht für Angelina Tsaune und ihre Mutter Irina (von links) – sie stammen aus dem Osten der Ukraine. Foto: Tim Würz
© Tim Würz

Im Rheingau-Taunus-Kreis gibt es eine Sammelunterkunft für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Einblicke in einen Ort, wo „Zimmer“ keine Decken haben.

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RHEINGAU-TAUNUS. Nur wenige Minuten Fußweg sind es bis zum Rheinufer, Luftlinie vielleicht 200 Meter. Angelina Tsaune guckt überrascht. „Nein, da waren wir noch nicht.“ Dabei möchte man ihr empfehlen, genau dort einmal vorbeizuschauen. Dort, wo die Sonne auf den Wellen glitzert, wo Boote vorüberziehen und Bingen mit seinen Hügeln einen sattgrünen Hintergrund malt. Mal Luft schnappen und dem Zuhause entfliehen, das sich zurzeit eine Sporthalle nennt. Für Angelina Tsaune ist aber derzeit jeder Schritt eine kleine Weltreise und acht Minuten Fußweg ein Abenteuer, selbst mit Rollstuhl, ihr Bein ist vom Oberschenkel bis zum Fuß eingegipst. Der Rhein muss also warten.

Der Eingangsbereich: Empfangstresen, Essbereich hinten links und eine Fläche für Kinder rechts. Foto: Tim Würz
Der Eingangsbereich: Empfangstresen, Essbereich hinten links und eine Fläche für Kinder rechts.
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Die 32-Jährige sitzt auf einer Bierzeltbank vor dem Halleneingang und erzählt von ihrer Flucht aus dem Osten der Ukraine, wo – man vergisst das immer wieder – ja seit 2014 bereits Krieg herrscht. „Seit Ende Februar ist alles schlimmer geworden, noch gefährlicher“, sagt sie. So gefährlich, dass sie mit ihrer Mutter Irina (52), ihren Geschwistern und ihrem Sohn flüchtete. Zunächst ging es in Richtung Süden des Landes an die Grenze zu Rumänien und zur Republik Moldau. Dort kam die Familie in einer Notunterkunft unter, auch eine Turnhalle, aber es gab keine Chance auf medizinische Hilfe, um die gebrochene Kniescheibe zu heilen.

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Drei bis vier Betten stehen in einem „Zimmer“, dazu ein Spind und Stühle. Foto: Tim Würz
Drei bis vier Betten stehen in einem „Zimmer“, dazu ein Spind und Stühle.
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Dank verschiedener Helferorganisationen erreichten Angelina Tsaune und ihre Familie mit Bussen über Polen und Köln schließlich Geisenheim. Die Geschichte, die Viktoriya Kalyakima vom Fachdienst Migration des Rheingau-Taunus-Kreises übersetzt, klingt nach einem Zusammentreffen vieler Zufälle. Die beiden Ukrainerinnen erzählen das Unglaubliche in ruhigem Ton, aber der Schock sitzt tief: Mutter Irina Tsaune kommen die Tränen, gefragt nach der aktuellen Situation in ihrem Heimatort. Momente der Stille. „Wie hält man das bloß in so einer Sporthalle aus? Ist das zum Aushalten?“ Die beiden Frauen zucken mit den Achseln, die Tochter lächelt und sagt: „Man gewöhnt sich an alles.“

Sozialpädagogin als Dolmetscherin

Seit dem 5. Mai ist die Familie in der Sporthalle untergebracht, nun wird eine ebenerdige Wohnung gesucht, erklärt Viktoriya Kalyakima, die eigentlich Sozialpädagogin ist, aber in dieser speziellen Weltlage irgendwie gleichermaßen Dolmetscherin. Normalerweise hätte die Familie längst eine Bleibe im Kreis gefunden, eine ebenerdige Wohnung zu finden, sei aber schwierig. Ein Rheingauer Arzt behandele mittlerweile das Bein. Grundsätzlich maximal fünf Wochen sollen Flüchtlinge in der Halle verbringen müssen, bis etwas Wohnlicheres gefunden wird.

Alles zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier in unserem ständig aktualisierten Liveblog.

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Es ist überraschend ruhig im Inneren, aus einer Ecke schreit ein Kind, Stimmen sind kaum zu hören, auch nicht im von Turnbänken umgebenen Spielbereich am Eingang. Dort liegen Puzzles, Puppenwagen und Malsachen herum, gegenüber prangt die ukrainische Fahne mit zweisprachiger Begrüßung: „Herzlich Willkommen.“ Direkt daneben ist der Essbereich, Festzeltgarnitur mit Klappbänken, das Essen wird angeliefert.

Der Spielbereich für Kinder. Foto: Tim Würz
Der Spielbereich für Kinder.
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Nur ein paar Meter weiter sitzen vier Kräfte des Malteser Hilfsdienstes, der die Unterkunft im Auftrag des Kreises betreut, am Bürotresen für die Registrierung: Jeder Bewohner bekommt einen Hallenausweis, ohne den niemand das bewachte Gelände betreten kann. Eine Handvoll Menschen wartet am Tresen – entspannte Atmosphäre. Mehr los ist dagegen montags, wenn Flüchtlinge aus den Erstaufnahmeeinrichtungen in Gießen oder Frankfurt mit dem Reisebus vorfahren. „Dann reicht die Schlange schon mal bis vor die Tür“, sagt Lukas Hirschochs vom Malteser Hilfsdienst. Nur aus den Einrichtungen des Landes zugewiesene Menschen, die dem Kreis vorab gemeldet werden, kommen in Geisenheim unter. Einfach vorbeikommen und anklopfen: nicht möglich.

Lesen Sie unsere Berichte zum Krieg in der Ukraine in unserem umfassenden Dossier zum Thema.

Viele Menschen auf kleinem Raum – schwer vorstellbar, dass dies ohne Konflikte bleibt. Hirschochs widerspricht: „Bisher hatten wir nur einen kleineren Konflikt zwischen ethnischen Gruppen, der aber schnell gelöst war.“ Zu erklären ist das wohl auch damit, dass von den 234 Betten in der Regel nur durchschnittlich 60 belegt sind. Die „Zimmer“ werden begrenzt durch blickdichte Bauzäune, bunte Bilder von Schulkindern hängen daran, über jedem Eingang hängt ein Vorhang. „Damit wahren wir so gut es geht die Privatsphäre“, erklärt Reiner Oswald, der als stellvertretender Kreisbrandinspektor für die Sammelunterkunft verantwortlich ist.

Die Sammelunterkunft auf einen Blick: Der stellvertretende Kreisbrandmeister Reiner Oswald hat den Überblick.            Foto: Tim Würz
Die Sammelunterkunft auf einen Blick: Der stellvertretende Kreisbrandmeister Reiner Oswald hat den Überblick.
© Tim Würz

Eine Decke gibt es nicht. Wer im Bett liegt, blickt auf die hohe Hallendecke. Dort, wo sonst die Sportlehrer ihren Rückzugsort haben, ist Oswalds Hauptquartier: Zwischen Schwimmnudeln und Turnschuhen hängt nicht nur der Belegungsplan, auf dem alle Zimmer und Gänge in der Halle gekennzeichnet sind. Das Schlüsselbrett an einer Wand erinnert an ein Hotel. Die Erklärung: In jedem Zimmer gibt es mehrere abschließbare Spinds.

Die Erfahrungen von 2015 helfen

Die ganze Logistik, der Aufbau der Unterkunft, die Bürokratie, das Zusammenspiel der Institutionen: schwierig, aber man hat aus den Erfahrungen von 2015 gelernt, das hilft. Doch einen Unterschied gibt es: Damals habe man sich besser auf Englisch verständigen können. Nun erweise neben den Dolmetschern, von denen täglich einer da sei, Google Translate wertvolle Dienste. „Das funktioniert“, bestätigt Malteser-Mann Hirschochs.

Etwas anderes funktioniert im Übrigen auch sehr gut: Wenige Tage nach unserem Besuch in Geisenheim erreicht uns die gute Nachricht: Angelina Tsaune hat mit ihrer Familie eine Wohnung gefunden.