Umbau für Verkehrsversuch in Gießen gestartet

Fahrradfahrer im Verkehr
© Jan Woitas/dpa/Archivbild

Gleicher Platz für Autos und Fahrräder – das gilt künftig auf dem Anlagenring um die Gießener Innenstadt. Schon vorab sorgt der Verkehrsversuch für viel Diskussionsstoff.

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Gießen. Verkehrsteilnehmer in Gießen müssen sich künftig umstellen: Mit einer Sperrung und ersten Umbauarbeiten laufen die Vorbereitungen für einen großangelegte Verkehrsversuch in der Universitätsstadt an, der in seiner Dimension und Dauer auch außerhalb Hessens Beachtung finden dürfte. Autos sollen künftig nur noch die äußeren Fahrspuren des Anlagenrings um die Gießener Innenstadt in Einbahnrichtung nutzen können, die bisherigen Innenspuren sind dem Fahrrad- und Busverkehr vorbehalten.

Ziel der Maßnahme ist zum einen mehr Platz und Sicherheit für Fahrradfahrer und Fußgänger. Außerdem könnte das Projekt Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung der Innenstadt sein, heißt es auf der Homepage der Stadt - deshalb geht auch kaum jemand davon aus, dass der Versuch nach der Laufzeit von einem Jahr wieder rückgängig gemacht wird.

Zu Beginn der Vorbereitungen bleibt von Montag bis voraussichtlich Anfang Juli zunächst die Ostanlage halbseitig gesperrt, und zwar zwischen Kennedyplatz und Berliner Platz. Auf diesen inneren Fahrspuren wird der erste Abschnitt der Fahrradstraße eingerichtet, dafür werden Markierungs- und Beschilderungsarbeiten vorgenommen und Ampelanlagen ausgetauscht. Die äußeren Fahrspuren können Autofahrer mit Beginn der Sperrung künftig nur noch in Einbahnrichtung befahren.

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In drei weiteren Abschnitten des Anlagenrings folgen in den kommenden Wochen zeitlich gestaffelt bis Ende September entsprechende Arbeiten. Die Kosten liegen bei rund 1,2 Millionen Euro. Auch künftig sollen Zufahrten zu Parkhäusern und -plätzen sowie Grundstücken erreichbar bleiben. Die Stadt rechnet vor allem anfangs mit „Eingewöhnungsproblemen“, die sich mit der Zeit aber einpendeln dürften, wie eine Stadtsprecherin sagte.

Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt, das ursprünglich auf einen Bürgerantrag zurückging, von Professor Stefan Hennemann vom Institut für Geographie und Wirtschaftsgeographie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mit seinen Studierenden will er den Versuch ergebnisoffen und neutral auswerten. Die Stadt mit ihren Bedingungen biete beste Voraussetzungen für das Projekt. Dazu gehören neben dem Anlagenring eine kompakte Innenstadt, der Autobahnring um Gießen und ein relativ großer Fahrrad-Anteil am innerstädtischen Verkehr.

„Klar, am Anfang wird es da knirschen“, sagt Hennemann, zeigt sich insgesamt aber zuversichtlich für die Umsetzung. Den Verkehrsversuch müsse man vor allem in Verbindung mit dem Ziel Gießens sehen, bis 2035 klimaneutral zu werden. Zwar dürfte nicht unmittelbar CO2 durch das Projekt eingespart werden, weil die Autos weitere Strecken fahren, doch könnte es dazu beitragen, dass langfristig mehr Menschen vom Auto aufs Fahrrad und auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen.

Vertreter aus der Wirtschaft sehen den Verkehrsversuch kritisch, wollen ihn aber konstruktiv begleiten und keine Ängste schüren, wie es bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Gießen-Friedberg und der Kreishandwerkerschaft Gießen heißt. Es gelte, das Signal zu setzen: „Die Stadt ist auch weiter erreichbar und auch mit dem Auto erreichbar“, sagte Daniel Kaiser vom Bereich Standortpolitik der IHK Gießen-Friedberg.

Verkehrsversuch ruft beim einen Sorgen, beim anderen Vorfreude hervor

Die Ergebnisse des auf ein Jahr angelegten Versuchs werde man gemeinsam mit der Stadt evaluieren und bei Bedarf auch darauf hinwirken, dass nachgesteuert werde. Vor allem Handel und Gastronomie in den Innenstädten hätten in den vergangenen Jahren durch Corona-Pandemie und hohe Inflation unter vielen Problemen gelitten und dürften durch den Verkehrsversuch nicht abgehängt werden. Wichtig sei zudem, auch den öffentlichen Nahverkehr weiter auszubauen und vor allem das Umland besser anzubinden.

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Kreishandwerksmeister Kay-Achim Becker sorgt sich um weitere und kompliziertere Anfahrtwege durch das Projekt. Einerseits verursachten sie höhere Kosten für die Betriebe, die dann auf die Kunden umgelegt werden müssten. Andererseits sei zu befürchten, dass Bürgerinnen und Bürger aus dem Umland als potenzielle Kunden für innerstädtische Betriebe wegbleiben. Es gelte, die Funktion Gießens als Oberzentrum in der Region zu erhalten. Wenn etwa ältere Menschen für Arztbesuche lieber medizinische Versorgungszentren im Umland als Praxen in der Gießener Innenstadt ansteuerten, könne das Wirtschaftskraft aus Gießen abziehen.

Beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) hingegen herrscht gespannte Vorfreude auf das Projekt, das auch neue Zielgruppen für das Fahrradfahren erschließen könnte. So dürfte der Gewinn an Sicherheit vor allem Kindern und älteren Menschen zugutekommen, und auch Fußgänger werden profitieren, ist Jan Fleischhauer vom ADFC Gießen überzeugt. „Wir sind total dankbar, dass das endlich angegangen wird.“