„Tod eines Handlungsreisenden“ mit Ulrich Matthes in Wiesbaden

Wenn die Schatten immer größer werden: Loman (Matthes) verliert Arbeit und Verstand.Foto: Arno Declair    Foto: Arno Declair
© Foto: Arno Declair

Spontan und vielsagend: Das Publikum ist vereint im großen Seufzen. Ulrich Becks Ansprache vor dem geschlossenen Vorhang droht auf eine Enttäuschung hinauszulaufen. Kurz vor...

Anzeige

WIESBADEN. Spontan und vielsagend: Das Publikum ist vereint im großen Seufzen. Ulrich Becks Ansprache vor dem geschlossenen Vorhang droht auf eine Enttäuschung hinauszulaufen. Kurz vor dem Gastspiel seien vier Schauspieler erkrankt, es werde deshalb Neubesetzungen geben, kündigt der Dramaturg des Deutschen Theaters Berlin an. „Ulrich Matthes“ – hier macht er eine Pause, auf die prompt das allgemeine Bedauern der Zuschauer folgt – sei aber „topfit“ und werde natürlich spielen, „keine Sorge“. Die Erleichterung ringsum zeigt, weshalb die meisten zu diesem Maifestspiel-Abend ins Große Haus gekommen sind: Um „ihn“ zu sehen.

Was bleibt, wenn man keinen Erfolg hat?

Kein Wunder. Denn das, was dieser Ausnahme-Schauspieler auch an diesem Abend zeigt, ist einfach packend in dieser Bühnenpräsenz. Matthes, der einem großen Publikum auch durch seine Filmrollen bekannt wurde – unter anderem als Joseph Goebbels in Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“ – ist dem Theater immer treu geblieben: Seit der Spielzeit 2004/05 zählt er fest zum Ensemble des Deutschen Theaters Berlin. Wäre Theater ein Fußballspiel, würde man sagen: Ein spielentscheidender Kapitän.

Und ebenfalls 90 Minuten dauert dieser kompakte, auf das Wesentliche reduzierte Abend, der nicht nur zeigt, was ausgezeichnete Sprechkultur auf einer großen Bühne alles kann, sondern auch die Aktualität von Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“. Das Verlierer-Drama, 1949 uraufgeführt und mit dem Pulitzerpreis bedacht, kratzt am amerikanischen Traum: Ein älterer Vertreter, der immer weniger fähig ist, das hohe Tempo im Berufsleben mitzugehen und schließlich nicht nur seine Arbeit, sondern auch seinen Verstand verliert, nimmt sich das Leben. Man muss nicht tief graben, um Parallelen zu heutigen Existenzängsten zu finden – und das nicht nur mit Blick auf Rentenperspektiven und Altersarmut.

Anzeige

In Bastian Krafts schlüssiger, sehr puristischen Inszenierung haben schon die Jungen längst aufgegeben: Happy (Camill Jammal) setzt die Lebenslügen seines Vaters fort und Biff, mit dem Benjamin Lillie sein großes Talent unter Beweis stellt, wirkt wie ein Vertreter der heutigen Generation Y, lieb, aber ohne Antrieb. Auf verlorenem Posten kämpft hier auch die Mutter: Linda, der die eingesprungene Judith Hofmann eine verletzliche Mädchenhaftigkeit mitgibt, wird von allen Männern in ihrer Familie nicht ernst genommen.

Das immer auch von musikalischen Dissonanzen grundierte Familientreffen beginnt ohne den Vater – am Tag seiner Beerdigung. Die Leere ist von Anfang an allgegenwärtig, das minimalistische Bühnenbild (Ben Baur) nur bestückt mit Tisch und Stühlen, ringsum eine graue Ovalwand. Darauf führen die großen Schatten ein Eigenleben und bedrängen Willy Loman. Ulrich Matthes spielt ihn als cholerischen Misanthropen, der sich im Wettbewerb aufgerieben hat, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstmitleid pendelt und eher um versäumte Chancen trauert, als seinen falschen Stolz zu überwinden und mit dem Jobangebot von Charley (Jörg Pose) wieder auf die Füße zu kommen. Kein Sympathieträger. Aber Matthes schafft es, auch dieser am eigenen Anspruch gescheiterten Figur so etwas wie Würde zu verleihen. Das Publikum feiert ihn dafür. Und wieder zu Recht.