Nicht von Sophokles, sondern von Seneca: „Ödipus“ in Mainz
Von Jens Frederiksen
In der Mainzer Inszenierung findet sich König Ödipus (Daniel Friedl) im Jugendstil wieder. Foto: Andreas Etter
( Foto: Andreas Etter)
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MAINZ - Ungewöhnliche Stückwahl. Das Mainzer Staatstheater spielt einen „Ödipus“ – aber nicht den vertrauten des Sophokles, sondern eine 500 Jahre später im antiken Rom entstandene Version von der Hand des Philosophen und Nero-Erziehers Seneca.
Nun war eigentlich immer alles in Ordnung mit Sophokles – auch wenn das wortreiche Hin und Her zwischen altklugem Chor und schicksalsgebeutelten Akteuren und diese unausgesetzten Verbeugungen vor dem Ratschluss der Götter immer etwas fremd rüberkamen. Doch der römische Autor ist in diesen Punkten um kein Jota besser, tendiert sogar noch ausgeprägter zum Monologischen und strapaziert mit einer dick aufgetragenen Bildersprache die Geduld. Warum also Seneca?
Regisseur Marcus Lobbes und sein Ausstatter- und Darstellerteam sind im Kleinen Haus in Mainz mit enormem szenischen Aufwand um eine redliche Antwort bemüht. Das Geschehen, das auch bei Seneca im schrittweisen Aufdecken von Ödipus’ unwissentlichem Vatermord und seinem ebenso ahnungslos eingegangenen Ehebund mit der eigenen Mutter besteht, ist in die Römerzeit verlegt. Oder, genauer, in ein blendend weißes Kabinett, das in der Rückwand Nischen mit lebensgroßen Gipsfiguren in ur-römischer Anmutung aufweist. Und die handelnden Personen stecken in goldenen Rüstungen und ausladenden Prachtgewändern. Im Stuck der Wände freilich verbirgt sich auch galante Kunst des Rokoko.
WORUM GEHT’S
In Theben wütet die Pest: Ein Fluch der Götter liegt auf der Stadt. Bei der Suche nach der Ursache stößt König Ödipus auf einen Frevel, der die Grundfesten von Ethik und Moral erschüttert: Ein Mann von Geltung im Gemeinwesen hat einst seinen Vater erschlagen und die eigene Mutter geheiratet. Der Übeltäter, so stellt sich heraus, ist der ahnungslose Ödipus selber.
Um noch eine Brechung mehr unterzubringen, schlüpfen Seher und Königin in der zweiten Aufführungshälfte sogar in elegante Jugendstilgewänder mit nobelsten Ornamenten (Kostüme: Miriam Grimm). Wir blicken gewissermaßen aus dem Fin de Siècle auf die Zeit des untergangsgeweihten barocken Absolutismus, als der sich gerade mit der römischen Lesart des uralten Ödipus-Mythos tröstet. Oder, auf einen kürzeren Nenner gebracht: In Mainz wird das Stück des Rhetorik-begeisterten Römers Seneca als das genommen, was es ist: eine Wortoper, die nur in kostbarer Kulisse zur Geltung kommen kann.
Gipsstatuen erwachen zum Leben
Bleibt freilich die Frage: Lohnt der Aufwand? Erste Zweifel daran tauchen bereits auf, als der jungenhafte Ödipus des Daniel Friedell im grau gestreiften Pyjama neben seiner ebenso unaristokratisch ins Doppelbett gedrückten Angetrauten Jokaste (Leoni Schulz) die Augen aufschlägt und sein Tagwerk mit einem Monolog über die Pest in Theben beginnt.
Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn dem Sprecher mit seiner weichen Stimme nicht ein hochgestimmtes, in verstiegene Schachtelsätze eingefrorenes Endlos-Lamento in den Mund gelegt wäre. Und als sich seine Frau endlich auch Versmaß-gestützt zu Wort melden darf, geschieht das ebenfalls mit einer Stimme, die ganz von der Sachlichkeit des Hier und Heute durchdrungen ist. Der Tonfall stimmt einfach nicht – der Text wirkt da nur aufgeblasen und deplatziert.
Dabei gibt es eine Menge kluger Einfälle. Die dekorativen Gipsstatuen in den beiden Wandnischen erwachen umgehend zu Leben, als es gilt, den Part des Chores zu besetzen. Wenn der Seher Tiresias (Armin Dillenberger) die königlichen Gemächer betritt, ist ein Magier mit unheilverkündender Totenkopf-Halbmaske im Anmarsch. Seine Tochter Manto (Antonia Labs) hat Würde und Rätselhaftigkeit einer Königin der Nacht (als die sie den staunenden Ödipus allerdings auch sehr zielstrebig auf höchst irdische Abwege lockt).
Und der Aufführungsschluss, für den der Jokaste-Bruder Kreon (Klaus Köhler) zum Touristenführer durchs Ödipus-Schloss mutiert und im Zuschauerraum fünf Neugierige einsammelt, während der Hausherr und seine Angetraute den Platz der Statuen in den Wandnischen einnehmen, sorgt sogar für einen verblüffenden Moment in Kalauer-Nähe.
Bühnenbild, Kostüme und immer neue Regieeinfälle mit oft großem Schauwert dienen anderthalb Stunden lang allerdings nur als gnädige Ablenkung von der Tatsache, dass die überbordenden Textmengen ohne jeden Gedanken an Spielbarkeit und dramatische Notwendigkeit aufgehäuft sind. Es hilft nichts: Man mag da nicht zuhören. Das Stück hat seinen Praxistest nicht bestanden.