Dienstag,
23.01.2018 - 00:00
3 min
Lohnende Wiederbegegnung mit Manfred Trojahns „Enrico“ im Bockenheimer Depot der Frankfurter Oper

Von Johannes Breckner
Leiter Kulturredaktion Darmstadt
FRANKFURT - Nach gut neunzig Minuten ist die Oper zu Ende. Dabei hätten die Töne locker für vier Stunden ausgereicht. Manfred Trojahns „Enrico“ transportiert schon eine Menge Text und hat nicht weniger als elf Sängerrollen. Aber auch die Komposition scheint ständig mitzureden, mal kommentierend, dann konterkarierend, mal szenisch impulsiv, dann wieder reflektierend. Vor allem jagt sie die Aufmerksamkeit durch das gar nicht so kleine Kammerorchester, in dem die Streicherbesetzung reduziert ist, die Bläsersoli aber in aller Pracht und Vielfalt blühen. Wäre es eine Bilder- statt einer Tonflut, würde man einen Augenblick die Augen schließen wollen. Aber man will ja auch nichts verpassen von dieser dicht komponierten, das Interesse beständig kitzelnden Musik, zumal der Dirigent Roland Böer und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester dieser Partitur nichts schuldig bleiben an Plastizität und Raffinesse des Klangs, rhythmischer Präzision und vielen staunenswerten solistischen Einlagen.
Trojahns „Enrico“, 1991 in Schwetzingen uraufgeführt, lohnt die Wiederbegegnung. Auch dann, wenn die auf eine Tragikomödie Pirandellos zurückgehende Geschichte erst einmal operntypisch knifflig ist. Zwanzig Jahre ist es her, dass Enrico beim Maskenzug vom Pferd gestürzt ist. Er hatte das Kostüm des Kaisers Heinrich IV. gewählt, weil die von ihm verehrte Matilda sich als Markgräfin der Toskana und Besitzerin der Canossa-Burg verkleidet hatte. Eine seltsame Art, seine Liebe zu zeigen. Aber die Sache ging sowieso schief, Enrico stürzte, fiel auf den Kopf und fand nicht mehr aus der Rolle des Salierkaisers heraus. Seitdem pflegt er seinen Wahnsinn, und eine Schauspielertruppe hält die Illusion aufrecht. Dann rücken die Gefährten von einst an, ein skurriler Doktor will mit Matildas kostümierter Tochter das Bild von einst zum Leben erwecken und durch den zweiten Schock den Wahnsinn heilen.
Das ist medizinisch und dramaturgisch gleichermaßen zweifelhaft. Aber auf der Folie dieser Geschichte gelingt ein subtiles Spiel von Sein und Schein, von Wahn und Wirklichkeit, in dem bald klar wird, dass dieser Enrico ein äußerst klarsichtiger Wahnsinniger ist, der seine Maske raffiniert zur Wahrnehmung und Manipulation seiner Umgebung einsetzt. Daran lässt Holger Falk keinen Zweifel, der die feinen Schattierungen seines Baritons mit einer glasklaren Artikulation verbindet und so das Porträt dieses schillernden Charakters zeichnet. Der fesselndste Augenblick dieses konzentrierten Abends lässt das Orchester plötzlich schweigen, und Enrico offenbart sich im langen, intimen Dialog mit einem wunderbar geblasenen Flötensolo.
Das hat große Klasse, wie überhaupt die musikalischen Rollenprofile scharf gezeichnet werden. Auffallend etwa Juanita Lascarro als lyrisch mitfühlende Matilda, Dietrich Volle als überhebliche Doktor-Figur oder Peter Marsh mit fast schneidender Tenorkraft als Anführer des Schauspieler-Quartetts, das der Komponist in A-cappella-Passagen mit parodistischem Witz ausstattet. Die Inszenierung von Tobias Heyder deutet ihn geschickt an, überhaupt ist der Regisseur klug genug, vor allem auf Übersichtlichkeit der Ereignisse zu setzen und die gegensätzlichen Charaktere zu schärfen. Das ist nicht wenig bei diesem Stück. Und die Schlusspointe gehört dem Bühnenbild von Britta Tönne. Die hatte die 800 Jahre überbrückende Handlung in einer großen Bibliotheks-Rotunde angesiedelt. Als Enrico am Ende seinen Widersacher von einst tötet, öffnet sich hinter den Büchern die Lichterlandschaft des nächtlichen Frankfurt. Der Wahn ist in der Gegenwart angekommen, und für Enrico wird es kein Entkommen geben.