„Requiem für Auschwitz“ im Rahmen der Kulturwochen gegen Antiziganismus in Wiesbaden
Von Volker Milch
Redakteur Kultur/Politik/Wirtschaft Wiesbaden
Riccardo M Sahiti dirigiert im Staatstheater die Roma und Sinti Philharmoniker und die Frankfurter Singakademie. Foto: Jörg Halisch
( Foto: Jörg Halisch)
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WIESBADEN - „Therese Lehmann. Ein Jahr, drei Monate.“ Wenn die Schülerin auf dem Podium des Staatstheaters den Namen des Kinds liest, schwingt in ihrer Stimme das ungläubige Staunen mit, das Erschrecken angesichts der Tatsache, dass vor 75 Jahren auch Kleinkinder in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden.
Schülerinnen lesen die Namen von Deportierten
Die Jugendliche gehört zu vier Schülerinnen der Oranien- und Humboldtschule, die im Großen Haus die Aufgabe übernommen haben, an 119 Wiesbadener Sinti und Roma zu erinnern. Diese wurden am 8. März 1943 in der Bahnhofstraße zusammengetrieben und in Eisenbahnwaggons der Reichsbahn verfrachtet. Ganze Familien gehörten zu den Opfern, wie die Lesung der Namen deutlich macht. Das Schicksal der Familie Lehmann teilten auch die Familien Klein oder Meier. Dass das namentliche Gedenken im Staatstheater eine so eindringliche Wirkung entfaltet, der sich im Publikum niemand entziehen kann, ist auch dem Kontext zu verdanken: Die Lesung durch die Schülerinnen Luisa Kimpel, Darja Krebs, Leonie Böhler und Franziska Müller stellt zwischen den Sätzen des „Requiems für Auschwitz“ einen unmittelbaren Bezug zum Anlass des Gedenkkonzerts her. Die 2012 in Amsterdam uraufgeführte Komposition des Sinto-Musikers Roger Moreno-Rathgeb sollte der Höhepunkt der ersten „Wiesbadener Kulturwochen gegen Antiziganismus“ sein. Der Landesverband Deutscher Sinti und Roma macht im Rahmen dieser Kulturwochen unter anderem mit einer Ausstellung im Stadtmuseum auf die von Verfolgung und Diskriminierung geprägte Geschichte der Minderheit aufmerksam.
Dass das Thema von bestürzender Aktualität ist, zeigt das Ansinnen des neuen italienischen Innenministers Matteo Salvini, die Sinti und Roma des Landes zu zählen und ein „Personenregister“ zu erstellen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma kritisiert in einer Stellungnahme diese „Sondererfassung“ als gezielten Vorstoß, „um die Grenzen des italienischen Rechtsstaats aufzulösen und in der Tradition faschistischer Regime zuerst die Vertreibung von Migranten aus Italien und dann die Ausgrenzung von nationalen Minderheiten aus der Staatsbürgerschaft voranzutreiben“.
Grußworte von Romani Rose und Volker Bouffier
Auch die Grußworte vor der Aufführung des Requiems durch die Roma und Sinti Philharmoniker und die Frankfurter Singakademie unter Leitung des Dirigenten Riccardo M Sahiti beziehen sich auf das Erstarken des Nationalismus in Europa. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier betont die Bedeutung der Erinnerung an die Opfer und sagt zu Auschwitz: „Das war kein Fliegenschiss, das war der Tiefpunkt der Zivilisation.“ Ein „Zeichen der Hoffnung“ sei für Bouffier, Schirmherr der Veranstaltung, die musikalische Botschaft, die auf der Staatstheaterbühne von einem Klangkörper vermittelt wird, in dem Musiker aus diversen europäischen Ländern zusammenkommen. „Da muss man nicht erst nach Italien schauen“, sagt Wiesbadens Kulturdezernent Axel Imholz mit Blick auf die notwendige Wachsamkeit in einer Demokratie. Der Saxofonist Emil Mangelsdorff, der sich maßgeblich für die erste Wiesbadener Aufführung des Requiems eingesetzt hat, dankt dem Frankfurter Dirigenten Sahiti dafür, dass er „erfolgreich für die Aufführung des Requiems gekämpft hat“.
Auschwitz stehe nach den Worten von Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, für ein „Menschheitsverbrechen“, dem 500 000 Sinti und Roma und sechs Millionen Juden zum Opfer gefallen sind. Rose erinnert in seinem Grußwort auch daran, dass „die Endlösung der Zigeunerfrage“ erst 1982 als Völkermord anerkannt wurde. Das Requiem von Moreno-Rathgeb zeige, so Rose, „dass auch heute wichtige Impulse für die Musik von Sinti und Roma ausgehen“.
In der Tat sind die melodischen Reize der Komposition, die der Autodidakt Moreno-Rathgeb „klassisch“ halten wollte, erheblich und in der höchst engagierten Aufführung präsenter als harmonische Raffinesse. Vom Glockenklang des Vorspiels, in dem Organist Samuel Kummer eine wichtige Rolle zufällt, spannt sich ein großer Bogen bis zum finalen „Libera me“. Im sehr kantabel gestalteten Vokalpart hat neben der Singakademie (Einstudierung: Jan Hoffmann) auch das Solistenquartett (Lisa Rothländer, Manja Raschka, Yongkeun Kim und Gun Wook Lee) dankbare Aufgaben.
Der in der Adorno-Tradition stehenden Meinung des Autors und Holocaust-Überlebenden Imre Kertész, nach Auschwitz lasse sich nur atonal authentisch komponieren, scheint Moreno-Rathgeb keineswegs zu sein. Er nähert sich mit geradezu entwaffnender Melodienseligkeit dem gewaltigen Thema. Ein wenig irritierend ist in der Instrumentation, die auf schlichte, kraftvolle Unisono-Effekte setzt, immer wieder der grelle Einsatz des Beckens.
Dass aber auch die berührenden Momente das Publikum erreichen, zeigt der herzliche, lang anhaltende Applaus, zu dem sich die Besucher des Gedenkkonzerts im Großen Haus erheben.