Kunstarchiv Darmstadt präsentiert Ernst Moritz Engert
Er war Mitbegründer der Darmstädter Sezession: Mit ihrer Ausstellung über den Silhouetten-Meister Ernst Moritz Engert öffnet das Kunstarchiv ein Fenster in die Geschichte.
DARMSTADT - Auch Wirte können Kunstgeschichte schreiben. Heinrich und Lulu Fürmann zum Beispiel. Ihre Pension in der Schwabinger Belgradstraße zog Künstler aus ganz Europa an. Stefan George wohnte mit Friedrich Gundolf unter dem Dach, Karl Wolfskehl schrieb ein Fürmann-Gedicht, Else Lasker-Schüler und Ricarda Huch zählten zu den später prominenten Gästen. Die Münchner Polizei hatte diese Gesellschaft scharf im Auge.
Hier lernten Ernst Moritz Engert und Hans Schiebelhuth einander kennen, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Es wird der Darmstädter Schiebelhuth gewesen sein, der, als 1919 die Darmstädter Sezession gegründet wurde, Engert für diese Künstlervereinigung begeisterte. Später lebte Engert zeitweilig auch in Darmstadt, gestaltete 1924 das Bühnenbild für eine „Datterich“-Aufführung. Schon zuvor hatte der Künstler einen Bogenschützen fürs Titelblatt der revolutionären Zeitschrift „Das Tribunal“ entworfen, dann lieferte er fürs erste Ausstellungsplakat der Sezession die meisterliche Fassung dieser Studie, die aus gespannten Linien und eleganten Formen eine ungeheure Spannkraft erzeugt: mehr Muskeln als Kopf und doch bis heute das prägende Signet der Sezession, das ihrer aktuellen Hundertjahrfeier das Motto „Den Bogen spannen“ beschert.
Die Ausstellung im Kunstarchiv gehört gar nicht zum Jubiläumsprogramm, aber sie rundet es doch beeindruckend ab. Denn während die Sezession mit ihren vielen Veranstaltungen vor allem den neuen Aufbruch in der Gegenwart sucht, hat Kurator Claus K. Netuschil in einem Kabinett den Beginn wunderbar zusammengefasst: Die Porträts und ausführlichen Biografien aller 25 Gründungsmitglieder werden begleitet von jeweils mindestens einem beispielhaften Werk. Das ist eine sehr schöne Ausstellung in der Ausstellung, und es ist erstaunlich, wie Netuschil auch dieses Kapitel noch in den beengten Räumen des Kunstarchivs untergebracht hat.
Denn eigentlich geht es um Engert, einen der 25, einen Zeichner und vor allem Silhouettenschneider: eine Kunst, die er nicht mit dem Scherenschnitt verwechselt haben wollte. „Scherenschnitt, das ist etwas für Kindergärtnerinnen“, pflegte er sich abfällig zu äußern. Das klingt erst einmal nicht übermäßig sympathisch. Man kann es aber auch verstehen als Verteidigung einer Kunst, die sich aus biedermeierlichem Hobby und Jahrmarkts-Vergnügen emanzipiert hatte. Zu welcher Meisterschaft es der Linkshänder Engert mit seinen winzigen Scheren brachte, zeigt die Ausstellung in wunderbaren Miniaturen. Von der hauchzarten Fingerspitze bis zu geschwungenen Gliedmaßen entwickeln sie erstaunliche Dynamik. Außerdem zeigen sie Sinn für Humor und Erotik, abzulesen etwa an der biblischen Szene des Sündenfalls, bei dem Adam Hut und Eva Ringellocken trägt.
Ein wenig Bastelei mag dahinterstehen, aber was der Betrachter sieht, ist ein sicheres Gespür für Bewegung, für Form, auch für den inneren Blick, der die angedeutete Geste ergänzen kann. Viele Skizzen auf Transparentpapier sind nötig, bis diese Reduktion gelingt; am Beispiel des Bogenschützen zeigt die Ausstellung den langen Weg zur grandiosen Miniatur. Ähnlich ist es auch bei den von Engert als Silhouetten geschnittenen Köpfen, die den Künstler als großen Porträtisten ausweisen. Klar, dass auch der Münchner Herbergsvater Heinrich Fürmann unter ihnen ist.
Aus den Sammlungen Netuschils und seines Co-Kurators, des Limburger Engert-Spezialisten Franz Josef Hamm, stammen die wesentlichen Stücke der Ausstellung, ergänzt um kostbare Leihgaben aus Limburg, Bonn und Hadamar, wo Engert (1892–1986) zuletzt lebte. Sie ist klug gegliedert und präsentiert neben der Geschichte des berühmten Bogenschützen komplett die Beiträge des Künstlers zu den Sezessionsausstellungen von 1919 und 1920, in den Vitrinen ergänzt um Briefe und andere Dokumente, die zeigen, wie eng der Künstler in den Kreis der Darmstädter Sezession eingewoben war – und wie einzigartig seine Kunst im Kreis der Sezessionisten blieb.