„Titanic“ als Musical: Das Klassensystem sinkt mit

Eine packende Geschichte, schöne Melodien und einen Schuss Sozialkritik: das Musical „Titanic“. Foto: BB Promotion/Scott Rylander

Das Musical „Titanic“ zeigt das Leben und Sterben an Bord auf einfühlsame Weise. Die Aufführung in Köln und Mannheim ist eine Hommage an die Menschlichkeit und gegen Größenwahn.

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KÖLN/MANNHEIM. Vor zehn Jahren ist die letzte Überlebende des Unglücksschiffes „Titanic“ im Alter von 97 Jahren gestorben. Der Dampfer und sein Untergang geben indes bis zum heutigen Tag Stoff für immer neue Storys. Doch aus der historischen Tragödie und ihren 1495 Opfern das Remake eines Musicals zu schaffen, ist zweifelsohne gewagt. Zumal der schwülstige Hollywoodstreifen mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet das Thema ziemlich ausgemergelt hat. Aber Komponist Maurey Yeston und Autor Peter Stone haben schon vor zwanzig Jahren ein eindringlich und sorgfältig recherchiertes Drehbuch in ein facettenreiches Bild der „schwimmenden Stadt“ umgesetzt. Hits wie „My heart will go on“ gibt es in der aktuellen Fassung von BB-Promotion allerdings nicht zu hören, dafür eine packende Geschichte, jede Menge schöner Melodien und einen Schuss Sozialkritik. Alle Akte gehen in Englisch mit deutschen Untertiteln auf Videoleinwand über die Bühne.

„Unsere Zuschauer lernen in unserem Musical Menschen kennen, die sterben müssen oder überleben. Deren soziales Leben ist von ganz zentraler Bedeutung. Und mit dem Schiff sinkt letztlich auch das Klassensystem an Bord“, beschreibt der Spielleiter von Köln und Mannheim, James Robert Moore, die Geschichte aus seiner Sicht. Wie Gigantomanie, Ignoranz und falscher Ehrgeiz zu Tragödie führen – und das trotz der damals bestmöglichen Technik – sei Inspiration für die Musik und die Show auf der Bühne gewesen, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung.

Apropos Technik: Wasserfluten müssen bei der jetzigen Inszenierung überhaupt nicht rauschen. Akteure, Lieder und Handlung sprechen für sich eine eigene, klare Sprache. Ohne viel Bühnenaufwand zieht das Geschehen die Zuschauer zweieinhalb Stunden lang in ihren Bann. Und wer nach der zehnminütigen Coda nicht ergriffen ist, stammt nicht von dieser Welt. Neben vielen charaktervollen Männerrollen finden sich auch drei ungewöhnliche Liebesbeziehungen aus der ersten, zweiten und dritten Passagierklasse im Programm. Vor dem Hintergrund der absehbaren Katastrophe schafft es das ausgezeichnete Ensemble aus England, das Thema Liebe und Tod bewegend in Szene zu setzen. Yestons Musik klingt oft ernst, dem Thema angemessen, getragen, aber bisweilen auch ausgelassen. Das Spektrum der Sounds reicht vom Choral über Opernklänge bis hin zum flockigen Ragtime. Kurt Weill, der Vater der „Dreigroschenoper“, hätte seine Freude an den nicht einfachen, aber fesselnden Kompositionen.

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Das Leben und Sterben auf dem „unsinkbaren, größten beweglichen Objekt seiner Zeit“ ist eine Hommage an die Menschlichkeit und gegen Größenwahn. Autor Peter Stone vergisst dabei auch nicht die verzweifelt gegen das Unabwendbare kämpfende Mannschaft. Selbst wenn der Plot hinlänglich bekannt ist, der Blick in die Seelen des Schiffsarchitekten und des Eigners offenbart neue Aspekte des Dramas. Immer schneller soll es Richtung New York gehen, die „Titanic“ auf Rekordjagd. Auf der Crew lastet deshalb großer Druck. Verhängnisvolle Fehler sind die Folge. Besonders der Kapitän und der Funkoffizier werden zu tragischen Figuren.

Auch die umjubelte Kölner Premiere hat bewiesen, dass der „Mythos Titanic“ weiterhin fasziniert. Und die Botschaft des Musicals bleibt vor dem Hintergrund immer waghalsigerer Pläne – sei es Gentechnik, sei es Flug zum Mars – allzeit aktuell. Handelt es nicht zuletzt doch vom Irrglauben des Homo sapiens, er sei das Zentrum des Universums und könne es wie Gott beherrschen – bis dann wieder ein kleiner Eisberg die Grenzen aufzeigt.

Von Wolf H. Goldschmitt