Es ist der erste Winter seit Jahren, in dem der Barfußgänger Christian Ernst Weißgerber wieder durchgängig in festem Schuhwerk unterwegs ist. Die Berliner Mischung aus Salz...
WIESBADEN. Es ist der erste Winter seit Jahren, in dem der Barfußgänger Christian Ernst Weißgerber wieder durchgängig in festem Schuhwerk unterwegs ist. Die Berliner Mischung aus Salz und fiesen Steinchen, die sich in die Haut frisst, ist unerträglich geworden. Ist es eine Überinterpretation, das von alten Kameraden als „eher undeutsch“ wahrgenommene Barfußlaufen selbst bei Minusgraden als Buße für die Jugendsünden zu sehen? „Och, ich weiß nicht“, entgegnet der ehemalige Neonazi im Gespräch. Einen „tiefenpsychologischen“ Zusammenhang will er nicht ausschließen. Eine Kompensation fürs Tragen von Springerstiefeln aber schon: „Die hatte ich nie, weil mein Vater sie untersagt hat.“
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Bei den Autonomen Nationalisten, „der Gruppe, mit der ich mich hauptsächlich organisiert habe“, waren ohnehin eher Turnschuhe angesagt. Einen „braunen Liedermacher“ nannten Antifaschisten 2009 in Jena den Studenten der Philosophie, der im Trio „Novus Ordo Mundi“ spielte und „völkische Musik“ komponierte. Wie hat man sich solche Tonsetzer-Tätigkeit vorzustellen? „Es geht um eine Einfachheit, die man auch Einfältigkeit nennen könnte“, erläutert der Kulturwissenschaftler seinen Ansatz als Singer-Songwriter. Meistens nicht mehr als vier Akkorde und das „Vibrato in der Stimme an den richtigen Stellen, um das Gefühl des Völkischen zu transportieren“. Dass das 1989 geborene „Wendekind“ selbst solche Emotionen „transportiert“ hat, liegt ein Jahrzehnt zurück. Aber die rechte Musikszene lebt auch ohne ihn weiter: „In Thüringen finden meines Wissens fast jede Woche Nazi-Konzerte statt, meistens unter der Hand“. Man sollte nicht zulassen, dass „eine Art Nazi-Festival“ sich festsetzt, meint er mit Blick auf „Schild und Schwert“ im sächsischen Fretterode oder Themar in Thüringen. Das Städtchen ist durch „Rock gegen Überfremdung“ zum Synonym für braune Umtriebe geworden. Apropos neue Länder: Im Osten gebe es zwar „viel, viel stärkere extrem rechte Strukturen“, aber man dürfe nicht vergessen, dass „die größten Nazi-Hochburgen“ im Ruhrgebiet liegen.
Weißgerber, in Eisenach aufgewachsen und „sehr strikt erzogen“, war schon als Schüler vom „historischen Nationalsozialismus“ fasziniert. So wenig es ein einzelnes „Erweckungserlebnis“ gegeben habe, lasse sich die schrittweise Distanzierung durch ein Schlüsselerlebnis erklären. Die „wachsende Gewissheit“, dass Völker „nicht von Natur aus existieren, sondern Konstrukte sind“, hat er als „Kränkung“ erfahren, „weil ich mich zuvor im Schoße des ,deutschen Volkes‘ geborgen gefühlt hatte“. „Bei den Autonomen Nationalisten hat die Strategie nicht funktioniert, von den Skinhead-Nazis, von den alten Nazis wegzukommen“, führt Weißgerber als weiteren Grund an. Die Gruppe hat versucht, „mit Strategien der autonomen Linken“ junge Leute zu erreichen. Dass die sogenannte „Identitäre Bewegung“ später im Stil der Linksautonomen das Brandenburger Tor erklettert hat, komme nicht von ungefähr: „Die meisten Identitären entstammen dem Umfeld der Autonomen Nationalisten.“
Kulturelle Fassade für Goebbels-Sprüche
Die Berliner Gruppe hat sich 2017 aufgelöst, aber ihrem Internet-Auftritt („Gegen die kapitalistische Ausbeutung! Für einen nationalen Sozialismus!“) ist noch anzusehen, dass man sich um eine kulturelle Fassade bemüht. Zitate von Goethe und Hölderlin finden sich neben einem Goebbels-Spruch. Bei seiner Gruppe mag die Verjüngung gescheitert sein. „Aber jetzt gibt es mit der AfD, den sogenannten Neuen Rechten und den Identitären genau das“, sagt der Aussteiger und findet es bedenklich, dass die AfD durch ihre Präsenz im Bundestag und in Landtagen „einen Schwall Geld bekommt, von dem viel schon jetzt in den Aufbau von extrem rechten Organisationen fließt“.
Als Beispiel nennt er das Haus der Identitären in Halle, „das hauptsächlich von AfD-Geldern gestützt wird“. Trotz Abgrenzungsbeschluss der AfD gegenüber den Identitären. Vom rechten Hausprojekt aus wurden im November zwei Polizisten mit Baseballschlägern angegriffen.
Aus Halle führt übrigens eine Spur ins hessische Bad Nauheim. Dort hat die Titurel-Stiftung ihren Sitz, benannt nach dem Stammvater der Gralshüter, den Wagnerianer aus „Parsifal“ kennen. Ihrem Gründer Helmut Englmann soll das Haus in Halle gehören. Ansprechpartner der Stiftung ist der hessische AfD-Politiker Andreas Lichert. Auf der Webseite muss wieder Hölderlin herhalten: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“
Seit 2012 ist Weißgerber, der an seiner Doktorarbeit zum Einfluss digitaler Medien auf Radikalisierungsprozesse schreibt, als Experte gefragt, wird von Schulen und zu Talkshows eingeladen. In Wiesbaden spricht er am 9. März über seine Biografie und die politische Situation.
Wenn am Ende des Telefonats der Name des Veranstaltungsorts fällt, „Walhalla im Exil“, spürt man Amüsement am anderen Ende der Leitung: „Ein interessanter Name für ein Theater“. Schließlich hat Walhall, in der nordischen Mythologie Versammlungsort gefallener Helden, auch in rechtsextremen Kreisen einen guten Klang.