Die Darmstädter Galerie Netuschil zeigt Ölbilder und Aquarelle von Christopher Lehmpfuhl.
DARMSTADT. Es kann drei Jahre dauern. Erst dann sollte man der Versuchung nachgeben, ein neues Ölgemälde von Christopher Lehmpfuhl nicht nur anzuschauen, sondern auch zu berühren, egal, wie verführerisch die Haptik auch ist. Denn so lang kann es dauern, bis Lehmpfuhls Farben durchgetrocknet sind, die sich viele Zentimeter dick wie in den Raum hineindrängen und die Bilder aus der Nähe mit ihren dicken Teigen, Wulsten und Spitzen zu abstrakten Reliefs machen. Gleich fünffach müssen bisweilen Leinwände auf den Rahmen gezogen werden, um diese Fülle tragen zu können, erzählt der Darmstädter Galerist Claus K. Netuschil.
Er hat seine Ausstellung mit neuen Ölbildern des Berliner Malers nicht ohne Grund „Landschaftstraum und Farbrausch“ genannt. Die Landschaften aus Berlin und seinem Umland oder aus der Toskana, deren Farben erst aus einigen Metern Entfernung zum Gesamtbild werden, sind Malerei gewordene Erfahrungen und Sehnsüchte eines Landschaftshungrigen, eines Menschen, den es hinausdrängt, um zu bannen, was ihn bannt. Lehmpfuhl malt „plein-air“, vor Ort und im Freien. Das schlägt sich nieder in Werken mit Namen wie „Blick durch die Bäume“, „Herbstliche Spiegelung am Lietzensee“, „Gehöft im Abendlicht“ oder „Olivenhain-Panorama“.
Der Blick in die Kunstgeschichte schweift dabei und vor allem angesichts der ebenfalls gezeigten Aquarelle unwillkürlich zurück ins 19. Jahrhundert – zurück zur Schule von Barbizon, zurück zu den Impressionisten, die als erste ihr malerisches Bündel gepackt haben und das Atelier verlassen haben, um draußen frei ans Werk zu gehen. Doch Lehmpfuhl ist nicht stehen geblieben: Er stellt der Macht der Natur die Wucht der Farben mit all der Freiheit vom Objekt entgegen, die das Malen des 20. Jahrhunderts geprägt hat.
Seine Bilder entstehen immer in nur wenigen Stunden, und dabei kommt kein Pinsel oder Spachtel ins Spiel. Die malerischen „Werkzeuge“ sind Lehmpfuhls Hände, was man allerdings kaum sieht, weil ein technischer Meister am Werk ist. Einer, der nach eigener Aussage noch nicht einmal bei seinen großen Formaten zurücktreten muss, um aus der Entfernung zu betrachten, ob alles stimmt. „Alles“: Das meint fast klassische Perspektiven und gegenständliche Formenwelten. Vor allem aber meint es seine raffinierte Lagenmalerei, bei der mit den dicksten der dicken Farbwulste nach vorn drängt, was auch im Bild vorne steht.
Die große Lust des Malers an Licht und Schatten wird bei seinem zweiten Lieblingsmotiv offenbar. Meist ist es diffus, gern lässt er die unsichtbare Sonne aber auch direkt auf Objekte fallen. Vor allem Lehmpfuhls historistische Berliner Häuserfassaden „leben“ davon, wie er sie ins Helle oder Dunkle stellt und geht dabei sogar das naturferne Wagnis ein, beleuchtete Flächen mit hartem Weiß auf die Leinwand zu bringen.
Nur einer fehlt (mit wenigen Ausnahmen) in diesem Spiel mit der Farbe: der Mensch. Lehmpfuhl macht nicht nur den Galeriebesucher zum Beobachtenden, Erfahrenden, Reflektierenden – und stellt seine Kunst auch damit in die Traditionen der Moderne.
Von Annette Krämer-Alig