Die Schweizerin Claudia Bossard holt einen labyrinthischen Roman auf die Bühne der Kammerspiele. Vier Schauspieler schlagen sich kurzweilig durch diesen literarischen Irrgarten.
Von Stefan Benz
Kulturredaktion Darmstadt
Zwei Germanisten suchen einen Autoren: Mona Kloos und Bela Milan Uhrlau in den Darmstädter Kammerspielen als Literaturwissenschaftler auf dem Weg nach Mexiko.
(Foto: Nils Heck)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
DARMSTADT - Eigentlich geht das ja nicht: einen 1100-Seiten-Roman, der im Grunde fünf lose verbundene Geschichten erzählt und dabei über 350 Seiten Serienmorde referiert, auf die Bühne zu bringen. Im Dramaturgenaufsatz von Max Löwenstein ist denn auch die Rede von der „schier unlösbaren Aufgabe, in zwei Stunden diesen Roman zu theatralisieren“. Was die junge Schweizer Regisseurin Claudia Bossard in den Kammerspielen des Darmstädter Staatstheaters probiert, sollte man also gar nicht erst versuchen, denn es kann im Grunde nicht klappen. Dafür aber, dass es nur schiefgehen kann, geht es ganz gut.
„2666“ von Roberto Bolano (1953–2003) ist ein Textlabyrinth mit hunderten Personen. Die Regisseurin schickt vier Schauspieler in diesen Irrgarten, wo sie sich mit ihren Figuren zwischen pinkfarbenem Portal, Runway-Rampe und einer Tür ins Nichts verlaufen werden (Bühne: Daniel Wollenzin). Zwar kommt man als Zuschauer da kaum hinein und hinterher, aber selbst, wenn man den Faden verliert, staunt man doch, was hier alles los ist. Man kann sich zwar fragen, warum sie „2666“ auf die Bühne geholt haben, aber wie sie es machen, ist fraglos sehenswert.
Leichter Einstieg in verstiegenen Stoff
Zunächst mal sind da zwei Literaturwissenschaftler, die ihrem nobelpreisverdächtigen Idol Benno von Archimboldi nach Mexiko hinterherreisen, wo sich seine Spur und wohl auch ihr Verstand verliert. Wie Bela Milan Uhrlau als Pelletier und Mona Kloos als Liz Norton im Doppel eine Germanistensatire hinlegen, das ist eine leichte Einstiegshilfe in den völlig verstiegenen Stoff. Sie messen sich beim Quiz der Fachbegriffe, üben sich eitel im Namedropping und diskutieren Heidegger auf Nachtfahrt durch Arizona. Uhrlau, der sich hier als Komödiant profilieren kann, ergeht sich mit offenem Hemd radebrechend in Caramba-Mexikanisch, spielt Baseball mit einem Baguette und ringt in einem Türrahmen klamaukig mit einer herausgerissenen Toilette. Mona Kloos kontert sein Spiel spöttisch und hat zackige Flamencoschritte ebenso drauf wie eckigen Rock‘n’Roll zu Chuck Berry. Mit schönem Gruß von Uma Thurman in „Pulp Fiction“.
DAS BUCH
Roberto Bolanos Roman postum erschienener Roman „2666““ ist bei Fischer als Taschenbuch (20 Euro) erhältlich. Die Geschichte spielt zwar in einer zunehmend irrealen Gegenwart in Mexiko, der Titel deutet aber darauf hin, dass es dort zugeht, wie in einer unfassbar fernen Zukunft. (sb)
Ja, mit kulturellen Referenzen kennen sich diese Germanisten aus. Vom Leben und Sterben im Mexiko aber wissen sie nichts. Die Begegnung mit dem chilenischen Philosophieprofessor Oscar Amalfitano, den man für ein Alter Ego des Autors halten darf, bringt die beiden auch nicht weiter, öffnet dem Spiel aber die nächste Dimension. Christian Klischat steckt im Clownskostüm des Ronald McDonald, schiebt einen Kinderwagen voller Schnapsflaschen und weiß von Diskriminierung an der Grenze und Abschiebungen aus den USA zu berichten.
Zwischendrin meldet sich via Video Ernest Allan Hausmann als Metaphern-Meteorologe mit einem lyrischen Gaga-Wetterbericht für das mexikanische Grenzgebiet. Anabel Möbius kommt als Amalfitanos Tochter Rosa erst spät so richtig ins Spiel. Da haben die Videobilder die Dialoge und Abläufe schon völlig zerschreddert. Keine Spur mehr vom gesuchten Literaten Archimboldi. Nur wenige Andeutungen über die monströse Mordserie an Frauen im Moloch Ciudad Juarez. Rosa, die – gruftig gestimmt mit Hoodie – auf einer Tribüne mit transparenten Plexiglassilhouetten verschwundener Frauen sitzt, singt einen minimalistisch-depressiven Wave-Song des französischen Duos „Agar Agar“ und berichtet dann fasziniert von den Menschenopfern der Azteken. Gewalt kann eben auch ein kultischer Akt sein. Vielleicht ist es ja das, was die Kulturwissenschaftler hier zu lernen haben. Das Theater gibt jedenfalls keine Antworten und entlässt den Zuschauer nach knapp zwei Stunden animiert und ratlos zugleich aus.
Roberto Bolanos Labyrinth „2666“ bleibt in den Kammerspielen zwar eine reichlich hermetische Angelegenheit, aber Claudia Bossard schafft es, dass man dranbleibt, obwohl man nicht wirklich drankommt. Viel schwerer kann man es sich als Regisseur mit seiner ersten Arbeit an einem Haus ja kaum machen. Es wäre gewiss kein Fehler, wenn das Darmstädter Theater für dieses Talent weitere Herausforderungen suchen würde.