Samstag,
16.11.2019 - 00:00
3 min
Auftakt der Reihe „Frankfurter Debatte über die Sprache“
Von Katja Sturm
FRANKFURT - Die Verfassung eines Landes ist dafür gedacht, die Menschen zu schützen und ihr Zusammenleben zu regeln. Die Frage ist jedoch, ob die Mehrheit der Bevölkerung den Text versteht – oder ob dies nur denjenigen mit ausgeprägten juristischen Kenntnissen vorbehalten ist. Die in Darmstadt ansässige Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ist dieser Aufgabenstellung nachgegangen. Zum Auftakt ihrer neuen Veranstaltungsreihe „Frankfurter Debatte über die Sprache“, die in Zukunft in jedem Jahr im Nachgang der Buchmesse zu einem ausgewählten Thema organisiert werden soll, ließ sie Experten für Sprache, Recht und Politik diskutieren. Dabei hob der Mainzer Jura-Professor Uwe Volkmann hervor, dass die Grundrechte zu Beginn des deutschen Gesetzestextes in einfachen Worten gehalten seien. Sein Kollege und Moderator Michael Stolleis ergänzte, dass es keine Fremdwörter darin gebe. Dennoch sind die verwendeten Begriffe nicht eindeutig und werden unterschiedlich interpretiert. Als anschauliches Beispiel dafür führte Volkmann an, dass auch in der nordkoreanischen Verfassung eine Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit festgeschrieben sei, die aber angesichts der dortigen Realitäten etwas anderes als hierzulande meine. Zur näheren Deutung hierzulande dienten deshalb zahlreiche Ergänzungen und Bestimmungen. „Wie kann ein Gemeinwesen von etwas beherrscht werden, das das Volk nicht versteht?“, wandte der Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein ein. Oder sei das gar nicht notwendig? Und wer entscheide über die wahre Bedeutung der Wörter? Begriffe wie Familie oder Ehe könnten enger oder weiter ausgelegt werden. Zudem müsse man sich angesichts der Diskussion um geschlechtergerechte Sprache darüber Gedanken machen, ob mit Sätzen, die mit „Jeder hat das Recht...“ beginnen, nur Männer gemeint seien.
„Dieselben Worte können im Laufe der Zeit immer wieder andere Bedeutungen bekommen“, bestätigte Volkmann. Doch ein gemeinsamer Kern bleibe erhalten. Gabriele Britz, Richterin am Bundesverfassungsgericht, erklärte, dass deshalb die Texte so offen gehalten seien. „Man benötigt eine gewisse Geschmeidigkeit.“ Für die aktuelle Interpretation seien die Juristen verantwortlich. Allerdings, so Britz, biege sich diese jeder der eigenen Funktion gemäß zurecht, der Rechtsanwalt Partei ergreifend, der Richter abwägend. Deshalb sitzen im obersten Gericht des Landes acht Experten zusammen, um unterschiedliche Sichtweisen zusammenzutragen. Im Übrigen existiere „das Volk“ nur als Vorstellung und nicht wirklich. Woraufhin Klein in den Raum stellte, ob „das Volk weiß, dass es nur eine Fiktion“ ist.
Direkte Demokratie und das „inhomogene Allerlei“
Wie es in einem Staat aussieht, in dem ein steuerndes Organ wie das Bundesverfassungsgericht fehlt, erläuterte der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss, dem die veranstaltende Akademie in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis verliehen hatte. In seiner Heimat herrsche direkte Demokratie, in der jeder, mit entsprechender Unterstützung, die Abstimmung über eine Ergänzung der Verfassung erwirken kann. So sei ein inhomogenes Allerlei entstanden, in dem sogar das Verbot einer bestimmten Schnapsmarke steht. „Vielleicht ist das das Abbild dessen, was die Menschen verbindet“, sagte Bärfuss.
Mit den „Wortklaubereien“, die andere beschäftigen, kann der 47-Jährige wenig anfangen. „Es geht um viel größere Probleme.“ Voraussetzung für ein Zusammenleben sei Vertrauen. Doch das sei in vielen Bereichen nicht mehr vorhanden. „Wie hat es dazu kommen können, und wie erlangen wir es zurück?“ Klein fasste zusammen: „Wenn Vertrauen schwindet, wird uns keine Verfassung helfen.“