Von Jens FrederiksenFRANKFURT. Giacometti geht immer. Kein Besucher wird auf dem Absatz kehrtmachen, weil sich jetzt in der Frankfurter Kunsthalle Schirn die spindeldürren Plastiken des Graubündner Jahrhundertbildhauers den Platz mit Objekten, Skulpturen und Installationen des amerikanischen Multimediakünstlers Bruce Nauman teilen.
Stilistisch liegen Welten zwischen den Beiden – was sich natürlich schon aus den Lebensdaten erklärt. Alberto Giacometti wurde 1901 im südschweizerischen Borgonovo geboren, kam Ende der 20er Jahre in Paris kurzzeitig in Kontakt mit den Surrealisten, entwickelte ab Mitte der 30er Jahre einen gestischen, in der Reduktion auf das Wesentliche sein Glück suchenden, „existenzialistischen“ Stil, der ab den 40er Jahren zu jenen schmalen, wie aus Tropfen aufgetürmten Menschenfiguren führte, die sein Markenzeichen werden sollten. Er starb 1966 in Chur – genau in jenem Jahr, in dem der 1941 in Indiana geborene Bruce Nauman seine erste Ausstellung hatte. Ein Hauptvertreter der klassischen Moderne trifft auf einen radikalen Grenzgänger des Medien- und Videozeitalters. Kann das gut gehen?
Offen gestanden: So richtig gut geht es nicht. Wenn die Frankfurter Ausstellungsmacher postulieren, das verbindende Elemente sei die Beschäftigung mit „fundamentalen Fragen des Menschseins“, dann muss die Frage erlaubt sein, ob das nicht als gemeinsamer Nenner fast aller Kunst gelten kann. Schwierig. Für den Ausstellungsrundgang heißt das aber: trotzdem neugierig bleiben und genau hinsehen. Doch auch dann sind Parallelen und instruktive Anknüpfungspunkte nicht immer zuverlässig auszumachen.
Symptomatisch der Einstieg. Erstes Objekt der Ausstellung ist eine frühe, schwarz gefasste Bronze Giacomettis – eine schmale, von afrikanischen Einge-borenenskulpturen inspirierte, mit ihren angewinkelten Unterarmen ins Leere greifende Frauenfigur mit dem Titel „Das unsichtbare Objekt“. Ihr gegenüber ist wie eine nicht ganz fertig gewordene Elektro-Installation ein Spiegel mit vier daran befestigten Scheinwerfern auf den Boden gelegt: Bruce Naumans 1967 entworfenes „Beleuchtetes Mittelstück“. Wer guten Willens ist, baut sich eine Interpretationsbrücke mithilfe von Begriffen wie „Leere“ und „ausgesparte Mitte“. Wer weniger guten Willens ist, sieht nichts.
Trost wartet am Ende des ersten Korridors der Schirn-Ausstellungsarchitektur in Gestalt von Giacomettis überlebenshoher „Großer Stehender“ von 1960, der ein bronzener „Mann, der geht“ mit seinen endlos langen zerbrechlichen Armen und Beinen und brikettschweren Füßen sowie zwei weitere eindrucksvolle Bewohner des Giacometti-Universums zur Seite stehen. Der Mensch, der in den Raum hineinwächst: Naumans auf Schwarzweiß-Filmen festgehaltene Atelier-Erkundungen daneben haben zumindest dasselbe Thema. Ein Video mit zwei TV-Produktionen Samuel Becketts aus dem Jahre 1981, in denen vermummte Figuren ein Quadrat abschreiten („Quadrat I und II“), führt den „Godot“-Autor zusätzlich als Vermittler zwischen den beiden bildenden Künstlern ein – und bietet mit dem Verweis auf den unterhaltsamen Nihilismus des absurden Theaters einen weiteren Interpretationsansatz von Belang.
Eine Hommage an die Nase und zehn Köpfe aus Wachs
Insgesamt versammelt die Schirn-Ausstellung gut 70 Arbeiten. Darunter befinden sich Ikonen der Kunst des 20. Jahrhunderts wie Giacomettis „Kopf auf Bronzestange“ und sein urkomischer, wie ein Uhrpendel in einem Metallrahmen baumelnder Kopf mit überlanger Nase – aber auch Wohlvertrautes von Bruce Nauman wie das gespenstische Gehänge aus zehn farbigen Wachsköpfen oder sein Entwurf für das Lichtobjekt eines „Marschierenden Mannes“ mit auffahrendem Penis. Zusammenführen muss der Besucher das Gezeigte selber. Oder er lässt es bleiben. Die Gedanken sind frei.
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